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Philosophisch-ethische Rezensionen
(Erscheinungsdatum der rezensierten Bücher: 20. und 21. Jahrhundert)

Jörg Löschke, Begründung von Pflichten zwischen Geschwistern

Für Löschke gibt es hier zwei akzeptable Argumentationsstränge:

1. Das intimitätsbasierte Argument

Hier werden Geschwisterpflichten als Freundschaftspflichten interpretiert. Sowie auch bei Freundschaften wechselseitige positive Einstellungen spezielle Pflichten generieren, so ist das auch bei gelingenden Geschwisterbeziehungen. Eine bestehende positive geschwisterliche Beziehung mit gegenseitigen positiven Einstellungen ist also einer freundschaftlichen Beziehung hinreichend ähnlich um hier dieselben Verpflichtungen zu generieren. Der Unterschied zwischen den beiden Arten von Beziehungen liegt aber nun darin, dass bei geschwisterlichen Beziehungen keine so freie Beziehungswahl vorliegt wie bei der Wahl eines Freundes, denn schon bevor wir ihren Charakter überhaupt bewerten können treten sie in unser Leben. So ist eine gelungene und fortwährend gelebte geschwisterliche Beziehung schon frei gewählt, der Partner aber ist vorhergegeben. Auch den Beginn der Beziehung kann man nicht wählen, wohl aber späterhin, ob man die Beziehung abbrechen möchte. Dieser Unterschied ist aber nach Meinung des Autors normativ nicht relevant, während dagegen aber in beiden Beziehungstypen normativ relevante Eigenschaften geteilt werden: intimitätsbasierte Geschwisterpflichten entsprechen dem Inhalt nach den Freundschaftspflichten. Dass es damit aber seiner Meinung nach noch nicht genug ist, weisst der Autor mittels zweier intuitive Einwände nach: Dem verlorenen Bruder, mit dem man gar keine intime Beziehung hatte und der plötzlich wieder in das eigene Leben tritt, scheinen wir gegenüber doch irgendwelche Pflichten zu haben und zum zweiten scheinen wir eine Verletzung einer negativen Pflicht gegenüber einem Geschwisterteil, auch wenn er uns entfremdet ist, immer noch negativer zu bewerten als die Verletzung einer negativen Pflicht gegenüber einem ganz und gar Fremden. Um dieses Phänomen zu erklären müssen wir, so der Autor, neben der freundschaftsanalogen Dimension der Geschwisterpflicht eine weitere Dimension annehmen:

2. Das rollentheoretische Argument

Das Geschwistersein ist auch eine sozial konstruierte Rolle, an die bestimmte Verhaltenserwartungen geknüpft sind. Solche möglichen Erwartungen sind etwa die eigenen Geschwister nicht zu betrügen und ihnen gegebenenfalls Unterstützung zukommen zu lassen, wenn sie darum bitten. Das Verständnis dieser Rollenpflichten ist aber nicht vom kulturellen und gesellschaftlichen Kontext losgelöst, sondern von ihm abhängig. Dabei bleibt die geschwisterliche Rollenpflicht in gewisser Weise aber immer etwas unterbestimmt, was vor allem daran liegt, dass sie nicht auf ein bestimmtes Ziel hin ausgerichtet ist (wie etwa die Rollenpflicht des Arztes, die als Ziel auf Heilung des Patienten ausgerichtet ist). Geschwisterrollen leiten sich dagegen von einer anderen Rolle ab, die auf ein konkretes Ziel hin ausgelegt ist, nämlich von der Elternrolle. Allerdings sind Rollen im Allgemeinen immer interpretationsbedürftige Konzepte, das gilt auch für Rollen mit teleologischer (Ziel-)Struktur. Insgesamt gilt: Schwester und Bruder sind sozial definierte Rollen mit sozial definierten evaluativen Standards, die anzeigen, wann und wenn eine Person ihre Rolle auch erfüllt. Als nichtgewählte Rolle erzeugen sie allerdings für den Rolleninhaber nur bestimmte Pflichten, wenn dieser in entsprechenden Umständen über sie reflektieren und sie dann auch akzeptieren kann. Er geht dann sozusagen auf Distanz zu seiner Rolle und entscheidet ob sie unter diesen Umständen gut, rational oder bedeutsam ist. Schließlich führt der Autor noch gegen den Einwand, es handle sich hier wegen der Kontextabhängigkeit um eine Form moralischen Relativismus, auf, dass seiner Meinung nach geschwisterliche Rollenpflichten nichtmoralische Rollenpflichten sind. Seiner Meinung nach ist eine Rollenpflicht nur moralisch, wenn die Rollenpflicht in der Erfüllung einer moralischen Aufgabe besteht und diese auch zum Inhalt hat (z. B. Arztrolle). Die soziale Funktion der Geschwisterrolle besteht aber nicht in der Erfüllung einer moralischen Aufgabe.

Jürgen Czogalla

13.12.2015