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Philosophisch-ethische Rezensionen
(Erscheinungsdatum der rezensierten Bücher: 20. und 21. Jahrhundert)

Christoph Halbig: Wozu Tugenden gut sind

Die Tugenden sind nach Halbig bestimmt als Vollkommenheiten einer Person, und zwar eben nicht aufgrund von kontingenten, zufälligen Vorgegebenheit, sondern als selbst entwickelte und kultivierte Eigenschaften, für die eine Person selbst verantwortlich ist und für die sie also auch berechtigtes Lob verdient. In der Charakterisierung einer Person reichen die Tugenden auch tiefer als etwa deontische (Pflicht-)Kategorien, denn bei Tugenden handelt es sich um robuste Charaktermerkmale sowohl in diachroner als auch in synchroner Hinsicht. In diachroner Hinsicht: Tugenden müssen schrittweise eingeübt und erlernt werden; sind sie aber erst einmal angeeignet, verschwinden sie auch nicht mehr auf die Schnelle. Denn hier drücken sich Orientierungen am Guten aus, grundlegende Haltungen, die nicht voneinander isoliert, sondern holistisch aufeinander bezogen bleiben und dabei die affektive Dimension der Persönlichkeit mit umfassen: Der wahrhaft Tugendhafte hat eben Freude an der Ausübung seiner Tugenden, welche mit darin begründet ist, dass er sich wie selbstverständlich und leicht in seiner normativen Orientierung hält. Das geht weit über eine bloße instrumentelle Fertigkeit hinaus, die nur angewendet wird, wenn es eben gerade passt, sondern ist voll integriert in die ganze Persönlichkeit. In synchroner Hinsicht: Die Tugenden übergreifen ganz unterschiedliche Arten von Situationen. Mutig kann man eben nicht nur sein bei physischer Gefahr wie z. B. im Kampf oder in Krankheit, sondern z. B. auch, wenn es gilt, psychischem Druck entgegenzutreten. Und wer wirklich die Tugend der Ehrlichkeit erworben hat, der wird diese Ehrlichkeit auch in unterschiedlichsten Handlungskontexten zur Wirkung bringen und anwenden können, eben situationsübergreifend. Zugleich befähigen Tugenden aber auch dazu, bei Gegenwind an guten Zielen festzuhalten und sich nicht so schnell entmutigen zu lassen. Dabei erweisen sich allerdings aretaische (Tugend-)Kategorien für Halbig sowohl begrifflich als auch axiologisch als sekundär: Zum einen bleiben sie konstitutiv auf andere intrinsischen Wert bezogen (z. B. ist die Tugend der Ehrlichkeit immer an der Wahrheit orientiert), zum anderen erlauben sie es ja gerade angemessen auf normative Gesichtspunkte zu reagieren, denen gegenüber ihnen also auch kein begrifflicher Vorrang zusteht. Des weiteren verweisen Tugenden auf Ideale, die über deontische Verpflichtungen hinausgehen. In dieser Hinsicht meint Halbig, dass bloße deontische Pflichterfüllung durchaus auch berechtigte Kritik verdienen kann, wie etwa wenn eine schwer erkennbare Not eines Nachbarn übersehen wird (da sind dann doch wohl nur dessen Angehörigen in der „Pflicht“!); wer hier nicht hilft, bleibt dann eben aus aretaischer Sicht hinter dem Ideal der Wohltätigkeit zurück. Ja, die Tugend öffnet hier für die Notlage Anderer geradezu erst einmal die Augen und ermöglicht es so, Missstände als solche überhaupt wahrzunehmen und gegen sie vorzugehen, während der reine Deontiker hier mit Blindheit beschlagen bleibt.

Jürgen Czogalla

01.12.2013