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Philosophisch-ethische Rezensionen
(Erscheinungsdatum der rezensierten Bücher: 20. und 21. Jahrhundert)

Dietmar Hübner, Das Lügenverbot bei Kant

Lügen ist bei Kant nach Hübner nicht nur dann verboten, wenn es mit erkennbar bedenklichen Absichten geschieht, sondern genauso verboten ist zum Beispiel die Arztlüge, der es um das Wohlbefinden des Patienten zu tun ist. Lügen ist auch dann nicht universalisierbar, wenn es um anscheinend gute Zwecke geht. Auch in diesen Fällen ist sie für Kant nicht vertretbar. Denn würde die Lüge zum allgemeinen Gesetz, dann könnte niemand mehr der Aussage eines Anderen vertrauen. So kann man dann mit einer Lüge auch keine Zwecke mehr erreichen. Bei der Lüge handelt es sich somit um eine Pflichtverletzung gegenüber anderen. Bei einer Verallgemeinerung der Lüge ergibt sich also ein Widerspruch in der sozialen Interaktion und sie kann so eigentlich gar nicht gedacht werden (logische Unmöglichkeit), was für Kant einen besonders schweren Verstoß bedeutet, wenn man denn lügt (Verletzung einer vollkommenen bzw. engeren Pflicht). Es lassen sich aber leicht Beispiele finden, die diese Ansicht Kants als extrem rigoristisch erscheinen lassen (etwa: Ist es nicht gerechtfertigt, die Häscher zu belügen, wenn sie mich nach dem Verbleib des unschuldig Verfolgten fragen, den ich bei mir verstecke?), sodass Hübner fragt, ob sich innerhalb der Konzeption von Kants kategorischen Imperativ nicht doch ein anderes Ergebnis zu diesem Thema gewinnen ließe, auch wenn Kant da selbst nicht zustimmen würde (seine Aussagen hierzu sind ziemlich eindeutig). Dazu stellt Hübner die Frage, ob die tatsächliche Maxime einer vertretbaren Lüge nicht doch verallgemeinbar sein könnte. Dann bliebe das grundsätzliche Wahrhaftigkeitsgebot gelten und würde nur in bestimmten Ausnahmesituationen außer Kraft gesetzt werden. Könnte nicht eine solche Maxime univeralisierbar sein, zumal der Adressat der Lüge ja nicht eindeutig erkennen könnte, ob der Lügende solch einen Ausnahmefall für sich beansprucht? Mit dieser Maxime blieben dann die eigenen Zwecke allemal erreichbar, auch wenn sie allgemeines Gesetz würden. Es ergeben sich für Hübner hier aber zwei Probleme: Wie will man legitime von illegitimen Ausnahmen vom Wahrhaftigkeitsgebot begründen ohne für diese Grenzziehungen andere Moraltheorien zu importieren? Zum anderen bleibt der durchaus berechtigte Eindruck, dass man auch etwa bei der Arzt- oder Notlüge etwas moralisch Fragwürdiges tut. Wenn eine solche Lüge den kategorischen Imperativ problemlos passiert, erscheint sie fälschlicherweise aber als moralisch völlig unbedenklich. Hübner favorisiert denn auch einen anderen Ansatz: Jede Lüge ist grundsätzlich schlecht, aber zuweilen kann eine konkurrierende Pflicht, die ihrerseits durch den kategorischen Imperativ begründet wäre, jene Pflicht nicht zu lügen überwiegen. So könnte etwa das Gebot unschuldig Verfolgten Hilfe zu leisten im Zweifelsfall das Lügenverbot überwiegen. Kant allerdings stuft hier selbst das Verbot der Lüge höher ein als das der Hilfe: Denn die Verallgemeinerung der Lüge kann nicht einmal gedacht werden, während die Universalisierung von mangelnder Hilfe lediglich nicht gewollt werden kann. Allerdings, so meint Hübner, gibt es für diese Stufung bei Kant keine Begründung, sodass man diesen Standpunkt auch nicht teilen muss, denn womöglich ist aus ethischer Sicht ein Widerspruch mit dem vorausgesetzten Willen ebenso bedenklich, wenn nicht sogar bedenklicher, als der Widerspruch einer unmöglichen Welt.

Jürgen Czogalla

14.02.2016