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Philosophisch-ethische Rezensionen
(Erscheinungsdatum der rezensierten Bücher: 20. und 21. Jahrhundert)

David Gelernter, Gezeiten des Geistes. Die Vermessung unseres Bewusstseins, Berlin 2016

David Gelernter wählt als vorzüglichste Methode zur Erforschung des Geistes die Selbstreflexion und Introspektive, die er kaum mit empirisch verifizierten Beobachtungen anreichern kann. Seine Hauptthese, die er immer wieder in dem gesamten Buch mantraartig wiederholt ist die, dass sich der Geist ständig, regelmäßig und auf vorhersagbare Art und Weise wandelt. Der Autor spricht dabei von einem Spektrum, dass der menschliche Geist immer wieder auf und ab durchläuft: Das oberste Spektrum bildet dabei das rationale Denken mit starker Reflexion und Selbstwahrnehmung, das sich durch hohe Konzentration und fokussierten Gedächtnisgebrauch auszeichnet, dann das mittlere Spektrum, indem das Denken das Erleben sucht, Emotionen hochsteigen und Tagträume einsetzen, ein Bereich der mittleren Konzentration, in der ein ungehinderter Gedächtnisgebrauch vorherrscht mit einigen gelegentlichen Abschweifungen, und schließlich das unterste Spektrum, in dem die Gedanken schweifen und nur noch eine ganz schwache Reflexion und Selbstwahrnehmung besteht, in der die Emotionen aufblühen und das Träumen einsetzt, das Gedächtnis sich selbstständig macht und nur noch eine ganz geringe Konzentration herrscht. Mit dem Buch führt der Autor detailliert durch dieses Spektrum, wobei er immer wieder betont, dass gerade das mittlere Spektrum noch kaum erforscht und stark in der Forschung vernachlässigt worden ist. Dieses Spektrum wandern wir jeden Tag mehrmals auf und ab. Als Ziel setzt sich der Autor in den kleinen, heimischen Vorfällen, die wir in unserem Geist erleben, die Gestalt des Geistes selbst zu erfassen. Andere wichtige Fachleute für den menschlichen Geist, auf die er immer wieder Bezug nimmt, sind für ihn die großen Dichter und Schreiber der Weltliteratur, allen voran Shakespeare. So wimmelt sein Buch denn auch vor vielen literarischen Anspielungen und Verweisen. Den geheimnisvollen Entstehungskreis der Kreativität sieht der Autor im mittleren Bereich des Spektrums.

Die Methode der Introspektion ermöglicht interessante, tiefsinnige und von jedem auch irgendwie nachvollziehbare Beobachtungen, was den menschlichen Geist betrifft. Wo reine empirische Forschung nur an der krassen Oberfläche verbleibt, werden hier umfassendere Einblicke möglich. Allerdings kann Eigenbeobachtung auch trügerisch sein, das Selbstverständliche muss nicht auch immer das geradewegs wirklich Zutreffende sein. So sehe ich gerade in der besseren empirischen Flankierung subjektiver Beobachtung einen wichtigen Bereich, den dieses Buch nicht abdeckt. Die Idee eines Geistspektrums, in dem wir uns tagtäglich mehrmals auf und ab bewegen, scheint mir aber doch eine fruchtbare und richtige Erkenntnis zu sein, von der man sich in der Forschung auch leiten lassen sollte. Allerdings grundlegende Kritik an seiner Theorie einmal auch richtig zu Wort kommen zu lassen ist Gelernters Sache nicht so recht, er entwickelt seine Gedanken an Eigenüberlegungen, die er nicht primär an der Auseinandersetzung entwickelt, sondern viel eher in Meditation. Er selbst sieht sich als Pionier eines ganz neuen, wichtigen und jetzt noch etwas abseitigen Forschungsfeldes in Sachen des Geistes.

Jürgen Czogalla, 28.03.2016

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