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                Philosophisch-ethische Rezensionen
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Joseph Henrich, Die seltsamsten Menschen der Welt. Wie der Westen reichlich sonderbar und besonders reich wurde, Berlin 2022Henrich stellt fest, dass so ziemlich alles, was Wissenschaftler bisher
         im Westen über menschliche Psychologie wissen, von Bevölkerungsgruppen stammt, die in vielen wichtigen und
         verhaltenswissenschaftlichen Hinsichten ungewöhnlich sind. Nämlich von einem ganz sonderbaren Menschenschlag, dem
         westlich orientierten Menschen, der sich von der übrigen Weltbevölkerung in vielerlei und merkwürdiger Hinsicht unterscheidet.
         Wir sind also aufs Ganze gesehen sehr sonderbar. Als Anstoßpunkt für diese erstaunliche Entwicklung sieht er die Auflösung
         verwandtschaftsbasierter Institutionen in Europa durch die katholische Kirche, die verwandtschaftliche Ehen weithin verbot.
         Die daraus resultierenden psychologischen Veränderungen wurden dann seiner Meinung nach durch die spätere Entwicklung
         unpersönlicher Märkte, konkurrierender freiwilliger Zusammenschlüsse, neuer religiöser Bekenntnisse, repräsentativer
         Regierungsformen und Wissenschaft noch weiter verstärkt. Unsere Geschichte beginnt also für Henrich mit der Zerstörung
         der stark verwandtschaftsbasierten Institutionen durch die Kirche, die durch eine Reihe eigentümlicher Tabus und
         Vorschriften in Bezug auf Ehe und Familie, also einer Art von Ehe- und Familienprogramm, eigentlich ungewollt den Anstoß
         zu einer weitreichenden Entwicklung gab. Dadurch wurde in einem über Jahrhunderte reichenden Prozess das soziale Leben
         und die Psychologie der Menschen nach und nach verändert. Diese Veränderungen begünstigten nach Henrich eine Psychologie,
         die stärker analytisch und individualistisch geprägt ist, an Schuldgefühlen ausgerichtet und bei der Beurteilung anderer
         absichtsorientiert ist. Zugleich geschah eine Abschwächung der Autorität der Alten, der Tradition und der Konformität.
         Die Ausrottung der Polygamie hat außerdem das Statusstreben der Männer untereinander gehemmt, was wiederum Ungeduld und
         Risikobereitschaft unterdrückt hat, und die Bereitschaft ein Wirtschaftsplus für sich selbst zu erreichen. Zugleich wurde
         dadurch nach Henrich der Weg für die Urbanisierung, expandierender unpersönlicher Märkte und konkurrierender freiwilliger
         Zusammenschlüsse wie freie Städte, Zünfte, Gilden und Universitäten geebnet. Urbane Zentren und Handelsmärkte erleichterten
         und erzwangen dann unpersönliche Interaktionen und förderten so unpersönliche Prosozialität und unparteiliche Regelbefolgung,
         wobei zugleich Eigenschaften wie Geduld, die Bereitschaft für sich Gewinne zu erwirtschaften, Selbstregulierung und das
         Zeitsparen befördert wurden. Das alles förderte dann auch die Entstehung differenzierterer Persönlichkeitsprofile und
         verstärkte die Neigung der Menschen, über andere Individuen und Gruppen in dispositionaler Weise zu denken.
          
         Henrich erklärt mit seinem Buch den erstaunlichen Aufstieg des Westens und weist darauf hin, dass unsere Mentalität sich deutlich von der übrigen Welt unterscheidet, die deutlich verwandtschaftlicher und clanbasierter ist als die unsrige. Das Ganze untermauert er mit einer Unmenge von empirischen und nicht selten ganz erstaunlichen Studien. Er bietet durch seine innovative Sichtweise viele neue Ausgangspunkte für weitere Forschung und verhilft uns zu einem besseren Selbstverständnis, aber lässt uns auch erkennen, warum das, was bei uns funktioniert, in anderen Teilen der Welt scheitert oder sich schwer tut zur Entfaltung zu kommen. Ganz zweifellos hat Henrich ein wirklich wichtiges, überbordendes Buch geschrieben, was es zu einer nicht ganz leichten, monumentalen Lektüre macht. Ein echter Augenöffner!  
                  
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