Philosophisch-ethische Rezensionen
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Rahel Jaeggi, Kritik von Lebensformen, Berlin 2014
In ihrem Buch geht Jaeggi in einem ersten Schritt der Frage nach, ob sich Lebensformen überhaupt kritisieren lassen,
was sie bejaht, und in einem zweiten Schritt sucht sie dann nach Kriterien, die man für eine berechtigte Kritik heranziehen sollte.
Dabei wendet sie sich allerdings gegen eine – wie sie findet – gefährliche Sittendiktatur, denn worum es ihr geht, ist nicht das
Sich-Festbeißen an einer altehrwürdigen, einzig richtigen Lebensweise, sondern darum, Defizite bei eigenen und fremden Lebensformen
aufzuweisen. Sie versteht Lebensformen als Problemlösungsstrategien, die beanspruchen, für bestimmte Probleme eine optimale Lösung
zu bieten. Lebensformen scheitern für sie normativ aufgrund normativer Defizienz, sie scheitern an einer auch immer normativ
geprägten Problemlösung. Dabei erscheinen normative Probleme auch immer als Probleme von Dysfunktionalität. Wiewohl nie ein bloßes
faktisches Scheitern, - denn das Scheitern hängt immer auch mit Bewertungen der Situation zusammen -, so lässt es sich doch zugleich
immer als nicht funktionierend identifizieren. Wenn Lebensformen in Krisen geraten, so Jaeggi, dann geschieht das primär nicht durch
äußere Hemmnisse, sondern es sind selbst verursachte und selbst gestellte Probleme, an denen sie scheitern. Letztlich scheitern sie,
wenn sie denn scheitern, primär an dem eigenen Anspruchsniveau, das sie selbst etabliert haben. Lebensformen müssen sich, so die
Meinung Jaeggi's, daran messen lassen, ob und wie sie fähig dazu sind, die ihnen gestellten Probleme zu lösen. Dabei sollte, wie sie
findet, eine solche Kritik der Lebensform ohne einen neutralen, außerhalb jeder Lebensform stehenden, sozusagen externen Standpunkt
auskommen, sollte aber auch nicht rein intern bleiben. Ihre Lösung ist eine immanente Form der Kritik, wie sie zuerst bei Hegel
benannt wurde. Dabei meint sie, dass außerhalb des Kritisierten es zwar keine sinnvolle Kritik geben kann, trotzdem ziehe immanente
Kritik aber nicht die Schlussfolgerung von nur relativer Gültigkeit einer Lebensform. Sie lokalisiert die Normativität sozialer
Praktiken in ihren Vollzugsbedingungen und erkennt, dass die Kontexte der Praxis widersprüchlich sind. Daraus ergibt sich dann eine
Kritik und im besten Falle am Ende eine Transformation der defizitären Lebensform. Das Ideal ergibt sich aus der Erarbeitung der
widersprüchlichen Muster der Wirklichkeit. Neben Hegel greift sie auch noch insbesondere auf Ideen von Dewey und MacIntyre zurück,
die sie ebenfalls recht ausführlich darlegt. Aus diesen drei Ansätzen heraus kreiert sie dann eine eigene, etwas transformierte
Theorie der Kritik von Lebensformen.
Bei dem Buch handelt es sich, wie die Autorin dem Leser in ihrer „Danksagung“ wissen lässt, um ihre substanziell überarbeitete Habilitationsarbeit. Und tatsächlich finde ich, dass sie einen Schreibstil und eine Darstellungsweise gefunden hat, die trotz komplexen Themas doch nachvollziehbar bleibt oder in die man sich zu wenigstens gut einarbeiten kann, also kein komplettes verwissenschaftlichtes fachchinesisches Kauderwelsch, dabei aber nicht frei von manchmal, wie ich meine, etwas ermüdenden Redundanzen. Dem Denkansatz Hegels in dieser Frage stehe ich allerdings, auch in der transformierten Version von Jaeggi, doch ziemlich zweifelnd gegenüber, also konnte mich die Autorin von ihrem Ansatz tatsächlich nicht so recht überzeugen. Denn bei der Identifizierung von Widersprüchen in Kontexten von Lebensformen und daraus folgernden Transformationen sitzen doch, wie die Philosophiegeschichte zeigt, Autoren immer wieder grob ihren eigenen (ideologischen) Vorurteilen auf und entsprechend fallen dann auch die Transformationsversuche aus. Wie man solche groben Schnitzer bei der Analyse vermeiden kann, darüber schreibt Jaeggi eigentlich so ziemlich wenig. Da bleibt wohl nur der Hinweis auf das Nachprüfen, ob bei der gewählten Widerspruchsanalyse und Transformationen denn die Probleme anfangen zu verschwinden, also frohes oder grausiges (wie zum Beispiel beim Stalinismus) Experimentieren. Dewey etwa dagegen mag weniger ambitioniert sein, aber er bleibt wenigstens mit beiden Beinen fest auf dem Boden. Auch sind für mich die von der Autorin abgelehnten „externen“ Kriterien alles andere als passé, sondern gehören meiner Meinung nach mit hinein in eine Kritik und Elemente von ihnen sind in der Tat in allen Lebensformen fest verwoben, und wie ich meine nicht bloß als Illusion. Trotzdem kann ich das Buch natürlich als gewinnbringende Lektüre zu einem interessanten Thema immer noch wärmstens empfehlen. Jürgen Czogalla, 03.01.2014
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