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Philosophisch-ethische Rezensionen
(Erscheinungsdatum der rezensierten Bücher: 20. und 21. Jahrhundert)

Jonathan Lear, Radikale Hoffnung. Ethik im Angesicht kultureller Zerstörung, Berlin 2020

Jonathan Lear erzählt in seinem Buch die Umbrüche die der nordamerikanische Indianerstamm der Crow ab gegen Ende des 19. Jahrhunderts durch das Vordringen des weißen Mannes zu verarbeiten hatte. Die Crow waren ein jagender, nomadischer Stamm von Kriegern. Um als Nomaden überleben zu können, mussten sie gute Jäger sein, aber sich auch gegen rivalisierenden Stämme wie die Sioux, die Blackfeet und die Cheyenne verteidigen. Die Lebensweise war geprägt von Jagen, Schlachten schlagen, das eigene Territorium verteidigen und Krieg vorbereiten. Erfolg im Leben hing maßgeblich vom kriegerischen Ruhm ab und darum drehten sich dann auch hauptsächlich die Gebete des Stammes. Besondere Bedeutung dabei hatte der Coup Stab und das Coup zählen. Der Coup Stab wurde vom Anführer der Kriegspartei des Clans in der Schlacht getragen. Wenn er den Stab in den Boden trieb durfte er nicht mehr weichen oder beim Verlust seines Coup Stabes an den Feind sterben. Er stand symbolisch für das Pflanzen eines Baumes, der nicht gefällt werden konnte. Es besagte so viel wie, dass man über den Punkt nicht hinaus darf, wenn man kein Crow ist. Als gezählter Coup etwa galt z.B., wenn der Krieger einem bewaffnetem, kämpfenden Feind mit dem Coup Stab berührte oder mit der Reitpeitsche oder mit dem Bogen bevor er ihm anderweitig Schaden zufügte. Ein Coup zählender Krieger war besonders angesehen und konnte umgehend seine Frau wählen und heiraten. Auch seine Frau war dann besonders angesehen. Einen besonderen Stellenwert hatte also die Tapferkeit, die Ehre, Zugang zu Frauen, materielle Vorzüge und zusätzliche Nahrungsrationen einbrachte. Auf dem Eindringen des Weißen Mannes und das Zuweisen in ein Reservat verschwindet dann die Möglichkeit des Coup Zählens und die ganze Lebensweise der Crow bricht zusammen. Der Autor stellt sich nun die Frage, was mit jemandem geschieht, wenn ihm die Möglichkeiten wegbrechen in Entsprechung zu den Idealen zu leben, die ihm zugewiesen sind. Was heißt es jetzt etwa ein hervorragender Häuptling zu sein, nach welchen Idealen soll man sich jetzt orientieren? Das Problem ist nicht nur, dass eine Lebensweise zu Ende gegangen ist, sondern dass jetzt auch die Begriffe fehlen, mit denen sich ein Crow sich selbst und die Welt verstehen kann. Das Crow-Subjekt hat eigentlich aufgehört zu existieren, alles was noch übrig bleibt ist ein gespensterhaftes Dasein. Für die Crow ergab sich ein Ausweg durch einen Traum, der sich ereignete als das Vordringen des weißen Mannes drängend wurde. Ein Junge, dem schon vorher Traumerscheinungen zuteil wurden, hatte diesen Traum. Der Träumende sieht einen Büffelbullen, der sich in eine menschliche Person verwandelt und ihn in ein Erdloch führt in dem er unzählige Büffel sieht. Als sie unzählig alle aus dem Erdloch gezogen waren verschwinden sie plötzlich alle. Jetzt kommen wieder unzählige Bullen, Kühe und Kälber aus dem Erdloch, aber es sind kein Büffel mehr. Die Schwänze sind länger und sie sind teils gescheckt. Dann zeigt ihm der Mensch einen alten Mann der unter einem Baum in einem Wald sitzt und sagt ihm, dass sei er der Junge. Dann kommt ein Sturm und alle Bäume werden vernichtet bis auf diesen einen Baum. In diesem Baum hat eine Meise ihre Unterkunft, die von den Crow hoch geschätzt wird und als weise gilt, sie ist die einzige Überlebende des Waldes. Die Stammesältesten hören den Traum und legen ihn aus, dass die Büffelherden verschwinden werden und dass die Kühe des weißen Mannes stattdessen die Prärie beweiden werden. Die Stämme die den weißen Mann bekämpfen, werden ausgelöscht. Wenn man aber selbst weise wie die Meise es tut zuhört und lernt, kann man diesem Schicksal entgehen und womöglich die eigenen Gebiete behalten. Dieser Traum, den ein Neunjähriger träumte, wird unverzüglich in das Selbstverständnis des Stammes aufgenommen. Sie verbünden sich mit dem weißen Mann gegen ihre Rivalen, z.B. die Sioux und können am Ende tatsächlich ihr Land behaupten. Der Träumende wird später der bedeutende Häuptling Plenty Coups, was viele Großtaten bedeutet. Er wird in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts seinen Coup Stab am Grab des unbekannten Soldaten in Arlington zusammen mit seinem Kriegsfederschmuck in feierlicher Zeremonie ablegen und wie der Autor meint so sinnfällig die alte Lebensweise endgültig zu Grabe tragen. Am Lebensende wird er dann tatsächlich als alter Mann unter einem Baum auf seinem Grundstück einem weißen Mann zum Aufschreiben seine Lebensgeschichte erzählen, was der Autor als Siegel eines geglückten Lebens ansieht. Seinen Besitz stiftet er vor seinem Tod noch und es ist heute ein wichtiger Gedenkort des Stammes. Die Crow fassten den Traum als Orakelspruch aus der Geisterwelt auf, der Autor interpretiert in psychologisch als Ausdruck gemeinschaftlicher Angst, die im ganzen Stamm vorhanden war und als Anzeichen dafür, wie es im Angesicht dieser Angst weitergehen soll. Die Stammesältesten konnten dann das Unbewusste des Traumes in einen deutlichen, bewussten Gedanken über die zukünftigen Herausforderungen überführen. Nach Ansicht des Autors könnte Plenty Coups Traum als göttlicher Aufruf aufgefasst worden sein, das traditionelle ethische Leben aufzugeben. Um zu überleben, mussten sie alles aufgeben, was sie als gutes und gelingendes Leben verstanden. Dabei waren sie aber zunächst unwissend darüber, auf was sich ihre Hoffnungen und Absichten richten sollten. Der vorliegende Weg sollte aber ehrenwert und integritätsbewahrend sein. Der Grund der Hoffnung für die Crow: Gott ist gut und darum werden sie das Gute wiedererlangen. Die Crow lassen so nach Ansicht des Autors sozusagen ihre eigene Subjektivität hinter sich und strecken sich in radikaler Hoffnung nach Neuem aus, eine Hoffnung, die sich der Verzweiflung widersetzte. Der Autor versucht dann noch nachzuweisen, dass diese Hoffnung begründet und im aristotelischen Sinne mutig war und stellt fest, dass sich der Stamm positiv weiterentwickelte.

Ein spannendes und wie ich finde nicht schwer zu lesendes Büchlein mit einer beeindruckenden Story und nicht ganz überzeugendem philosophischen Gehalt. Ich habe mich gerne mit einer fremden Kultur beschäftigt und wie sie auf für mich eher ungewöhnliche Weise eine große Krise gemeistert hat, geleitet von einer Traumerscheinung. Etwas Analoges wird etwa auch im Phaidon von Sokrates erzählt, der aufgrund von Traumerscheinungen anfing Musik zu treiben. Bei diesem Buch hätte ich mir ein paar Abbildungen mehr gewünscht.

Die Kraft der Erneuerung durch einen Schuss Spiritualität. Eine bereichernde Lektüre. Howgh!

Jürgen Czogalla, 15.11.2020

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