Philosophisch-ethische Rezensionen
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Hanno Sauer, Moral. Die Erfindung von Gut und Böse, München 2023Der Autor geht mit dem Leser von den Ursprüngen der Moral bis zum Heute
in 7 Kapiteln vor, die ähnlich lang sind, aber absteigend immer kürzere und gegenwärtigere Zeiträume behandeln:
5.000.000 Jahre - Geneaologie 2.0, 500.000 Jahre - Verbrechen und Strafe, 50.000 Jahre - Mängelwesen, 5.000 Jahre -
Die Erfindung der Ungleichheit, 500 Jahre - Die Entdeckung der Seltsamkeit, 50 Jahre - Die Moral der Geschichte, 5
Jahre - Unpolitische Betrachtungen. Dazu gibt es noch eine nette Einleitung und Schlussbetrachtungen von erstaunlicher
Länge. Gezeigt wird, wie unsere Moral ursprünglich durch Kooperation entstand. Später - um den Zusammenhang der Gruppe
weiter zu stabilisieren und die Kooperationsfähigkeit zu steigern - wurden moralische Normen durch Sanktionen abgesichert.
Man begann sich an Normen zu orientieren und deren Übertretung zu überwachen und zu bestrafen. Im Prozess der kulturellen
Evolution entstanden immer komplexere Technologien und Institutionen. Das Leben in der Gruppe wurde abhängig von dem
Reservoir von Fertigkeiten und Informationen, die andere liefern. Geteilte Werte und Marker der Identität schaffen das
dafür notwendige soziale Vertrauen. Es entwickelten sich dann Großgesellschaften, die im Gegensatz zu früher
hierarchisch organisiert waren und in denen Reichtum krass ungleich verteilt war. Die soziale Welt spaltete sich in
kleine Herrschaftseliten und eine Mehrheit Ausgebeuteter und Unterdrückter. Doch die Aversion gegen Ungleichheit blieb
erhalten und die Forderung, Gleichheit und Autonomie des Individuums erwachte zu neuen Leben. Es ist die Stunde des
westlichen, seltsamen Menschen, der immer individualistischer orientiert ist und die Funktion von Verwandtschaftsbeziehungen
und Privilegien hinterfragt. Heute, so Sauer, beschleunigt durch die katastrophalen Ereignisse des 20. Jahrhunderts,
ist die Umsetzung von Freiheit und Gleichheit für alle immer dringender. Im Jetzt sehen wir seiner Meinung nach eine
Auseinandersetzung zwischen Gruppen, die sich nach innen freundlich-kooperativ und nach außen argwöhnisch und feindselig
verhalten und nur denen Vertrauen, mit denen sie sich identifizieren. Kollektive Identitäten, so meint er, suggerieren,
dass wir Feinde sind, obwohl wir Freunde und Nachbarn sein könnten, die sich unterstützen oder doch wenigsten einander
ignorieren, anstatt sich gegenseitig zu zerfleischen. Er setzt sich in diesem Zusammenhang mit Wokeness und dem in diesem
Umkreis neu entstandenem Vokabular, aber auch mit Fake News, Cancel Culture, no platforming und effektivem Altruismus
auseinander. Dabei ist der Autor vor allem eines, nämlich klug. Wenn er den Leser auf seinen Parforceritt durch unsere
Moralgeschichte mitnimmt, dann ist dies anregend, oft auch überraschend und zumeist unterhaltsam. Gerade die Behandlung
unserer Gegenwart mit den vielen neu entstandenen Begrifflichkeiten fand ich besonders interessant und auch sehr
lehrreich. Eines der besten philosophischen Bücher die ich in diesem Jahr gelesen habe!
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