![]()  | 
                Philosophisch-ethische Rezensionen
             | 
  | 
Amartya Sen: Die Idee der Gerechtigkeit, München 2010Sens Buch über die Gerechtigkeit ist über weite Strecken eine  Auseinandersetzung mit John Rawls klassischer Theorie der  Gerechtigkeit, die, wie auch Sen anmerkt, die einflussreichste Theorie  auf diesem Gebiet in heutiger Zeit ist. Sen kritisiert nun dieses viel  gerühmte Rawlsche Programm, so dass sich bei ihm eine Art von  grundlegender Richtungsänderung ergibt, wenn er auch einem Ideal der  Fairness verpflichtet bleibt, wie wir es auch bei Rawls finden. Was  möchte denn nun Sen anders machen? Zunächst einmal kritisiert er bei  den gängigen Vertragstheorien Rawlscher Prägung, dass sie einen  Idealzustand konstruieren und die gegenwärtigen Verhältnisse dann an  diesen Idealzustand angleichen wollen. Sen hält dieses Verfahren im  Grunde für impraktikabel, er befürwortet ein Verfahren, bei dem auf die  Eigenart der fraglichen Gesellschaft Rücksicht genommen wird, auf ihre  tatsächlichen Verhaltensmuster. Seiner Meinung nach bedarf es  Einigungen über die Rangfolge von Alternativen durch den Prozess eines  öffentlichen Vernunftgebrauches. Diesen Ansatz bezeichnet er als  komparativ, den von ihm kritisierten Rawlschen als transzendentalen  Ansatz. Soziale Verwirklichung der Gerechtigkeit soll Sen zufolge nicht  abgelesen werden etwa am Nutzen oder Glück oder der bloßen  Verfügbarkeit von bestimmten Gütern, sondern an den Befähigungen und  Chancen der Menschen einer Gemeinschaft. Dadurch möchte er auch die  Sphäre der Verantwortlichkeit in den Blick holen und Raum für  Pflichtgebote schaffen. Die Betrachtung tatsächlicher Befähigungen und  sozialer Verwirklichungen von Befähigungen werden so zu ganz zentralen  Punkten seiner Gerechtigkeitskonzeption. Außerdem braucht es seiner  Meinung nach immer wieder der Perspektive eines "unparteiischen  Zuschauers" (er bezieht sich in diesem Zusammenhang auf Adam Smith) um  dem Provinzialismus eingekapselter, gruppenisolierter Einstellungen zu  entgehen. Er empfiehlt Meinungen jenseits der eigenen  kontraktionalistischen Gemeinschaft einzuholen, um auch deren  Interessen wahrnehmen zu können und den eigenen Blick zu weiten. Da für  Sens Theorie der öffentliche Vernunftgebrauch von zentraler Bedeutung  ist, kann es nicht verwundern, dass er ein ganzes Kapitel seines  Buches, nämlich das abschließende, der Demokratie widmet, die er als  "Regierung durch Diskussion" begreift. Durch den freien Austausch von  Informationen sind hier die besten Voraussetzungen dafür geschaffen,  dass Menschen aller Klassen gemeinsam an Bedingungen arbeiten, die für  alle gerechter sind, auch wenn wir vollkommen gerechte Zustände nicht  erreichen können. Im Kapitel über Demokratie geht der Autor außerdem  noch in gesonderten Abschnitten auf die Bedeutung von Menschenrechten  ein.
Ein gelungenes Buch. Jürgen Czogalla, 13.12.2010  
         
  |