Philosophisch-ethische Rezensionen
|
|
Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 2019, 20. AuflageIn ihren einleitenden Bemerkungen zu ihrem Buch, einem phänomenalen
klassischen philosophischen Text des 20. Jahrhunderts, gibt Arendt etwas von den Beweggründen zum Schreiben ihres
Werkes preis, das erstmalig 1958 und zwar in englischer Sprache erschienen ist. Für sie ein epochales Ereignis ist
1957 der erste künstliche Satellit gewesen. Damit beginnt die Ära wo uns unsere eigenen Gerätschaften aus dem All
entgegenleuchten, oder wie Arendt meint, eine merkwürdige Sehnsucht des Menschen bricht sich Bahn dem Gefängnis der
Erde, den Bedingungen zu entrinnen unter denen er sein Leben empfangen hat, der Umgebung in der er lebt und atmet. Eine Art
von Rebellion gegen sein eigenes Dasein, das er eintauschen möchte gegen Bedingungen die er selbst schafft. Zugleich
konstatiert sie für die modernen Wissenschaften eine eigentümliche Sprachlosigkeit, die dazu führen kann, dass wir
Sklaven des Hergestellten werden, ohne das Hergestellte selbst noch irgendwie denkend verstehen zu können. Denn für
sie wird nur etwas sinnvoll, - das was wir tun, erkennen, erfahren oder wissen -, wenn wir darüber auch sprechen
können. Sofern wir leben, uns bewegen und handeln hat nur Sinn, wenn wir uns mit anderen oder auch nur mit uns selbst
darüber verständigen können. Sie macht sich außerdem Gedanken über eine zunehmende Automation, die droht unsere
Arbeitsgesellschaft die Arbeit zu nehmen, laut Arendt die einzige Tätigkeit auf die wir uns noch wirklich verstehen.
Für Sie ein Verhängnis. Sie selbst hat für all das keine Lösung anzubieten. Was sie anbietet ist eine Besinnung auf
die Bedingungen unter denen Menschen bisher gelebt haben. Sie möchte darüber nachdenken, was wir eigentlich tun, wenn
wir tätig sind. Dabei zeigt sie nicht nur auf, wie Menschen im Tätigsein die Welt verändert haben, sondern weist auch
die Weltentfremdung der Neuzeit auf: Die Flucht von der Erde ins Universum und von der Welt ins Selbstbewusstsein. Sie
wandert vom sokratischen Stadtstaat bis zum Ende der Neuzeit zur Schwelle der Moderne, mit der für alle Menschen ein
neues Zeitalter anbricht.
Es ist bisweilen atemberaubend spannend für mich zu sehen, wenn Arendt die Umschwünge von dem was Öffentlichkeit, Privatheit, Arbeiten, Herstellen und Handeln zu verschiedenen Zeiten bis zur Schwelle an die Moderne genommen haben zeigt, sodass die alten Zeiten sehr erstaunlich und fremd vorkommen, so anders ist unser Verständnis geworden. Die unmittelbaren Grundlagen der Moderne werden sichtbar, auch wenn die Moderne an sich nicht Thema, sondern nur immer wieder Ausblicke zur ihr und mögliche Folgeentwicklungen angedeutet werden. Dabei ist Arendt eine Denkerin, die sich durchaus verständlich ausdrücken kann. Allein auch in der 20. Auflage sind griechische Begriffe in altgriechischer Schrift geschrieben und viele fremdsprachige Zitate nicht übersetzt worden, womit man deutlich zu verstehen gibt, dass man mit dem Buch ein akademisches Publikum ansprechen möchte. Sehr schade, dass man den Publikumskreis nicht erweitern möchte, aber was man in der 20. Auflage nicht hinbekommt, dass wird aller Wahrscheinlichkeit auch in der 55. Auflage nicht besser, sehr schade. Denn ich wünsche mir für Hannah Arendt sehr viel mehr Leser. Was dem heutigen Leser förmlich ins Auge springt, wenn er ihr Buch liest, ist dass sie das heute absolut im Fokus stehende Umweltthema überhaupt nicht auf ihrem Schirm hat, soweit hat sie noch nicht geblickt, auch wenn sie sich natürlich bewusst war, dass wir die Möglichkeit haben alles Leben auf der Erde zu zerstören. Den möglichen Klimakollaps hat sie noch nicht vorhergesehen oder irgendwie thematisiert. Das waren damals noch Zeiten! |