Philosophisch-ethische Rezensionen
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Hannah Arendt, Die Entdeckung des archimedischen PunktesFür Arendt ist der eigentliche Startschuss für die modernen Naturwissenschaften
die Erfindung des Teleskops durch Galileo Gallilei. Sie weiß, dass die von aller Bestätigung durch Erfahrung unabhängige
Vorstellung einer um die Sonne kreisenden Erde schon vorher im Umlauf waren. Durch das Teleskop wird aber erstmals ein
Gerät derart benutzt, dass sich durch seine Anwendung die Geheimnisse des Universums sich menschlicher Erkenntnis mit
der Gewissheit sinnlicher Wahrnehmung erschließen. Was bisher Feld der Spekulation war, wird dem Zugriff der Sinne
eröffnet durch eine Erfindung die den körperlichen Sinnesapparat enorm erweitert und über die Fassungskraft einer
erdgebundenen Kreatur hinausführt. Die unmittelbare philosophische Reaktion darauf war keine jubelnde Frömmigkeit,
sondern der Zweifel des Descartes. Laut Arendt blieben über Jahrhunderte die Folgen dieses Ereignisses widerspruchsvoll
und in ihrer Bedeutung ungewiss. Was sich daraus ergab war letztlich ein ungeheurer Zuwachs an Wissen und Macht, aber
auch das Anwachsen von Verzweiflung, die Entzauberung der Welt, die Entstehung des Nihilismus. Heute finden wir uns mit
den von uns selbst konstruierten Apparaten konfrontiert, in denen wir uns gewissermaßen immer selbst wieder finden
anstatt der wirklichen, reinen Natur des Universums zu begegnen. Verzweiflung und Triumph sind nach Arendt diesem gleichen
Ereignis geschuldet. Die niederdrückenste Furcht und die übermütigsten Hoffnungen sind hier angelegt: Die Furcht, dass uns
unsere Sinne betrügen könnten und die Hoffnung einen Punkt außerhalb der Erde zu finden, von dem man die Welt aus den
Angeln heben kann. Der Wunsch die Welt aus den Angeln zu heben geht einher mit einem radikalen Welt- und Wirklichkeitsverlust.
Was die Neuzeit betrifft hat nach Arendt Weltentfremdung den Gang und die Entwicklung moderner Gesellschaften bestimmt,
während Erdentfremdung das Wahrzeichen der modernen Wissenschaften ist.
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