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                Philosophisch-ethische Rezensionen
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Georg W. Bertram, Die Freiheit des Verstehens. Eine hermeneutisch-kritische Theorie, Berlin 2024Bertram meint in seiner Einleitung, dass es um Fragen des Verstehen philosophisch
   still geworden ist, was er offensichtlich ändern möchte. Seinen sehr gehaltvollen Ansatz hat er in kritischer und fruchtbarer
   Auseinandersetzung mit Denkern wie Gadamer, Davidson, McDowell, Freud, Hegel, Fichte, Foucault, Wittgenstein gewonnen, um hier
   einige zu nennen, die in dem Buch schon tiefer gehend in Bezug auf das Thema kritisch vorgestellt und im eigenen Ansatz dann
   irgendwie auch verarbeitet wurden, wenn auch teils nur in kritischer Distanznahme. Also das ist doch Mal ein Wort und eine
   wirkliche nahrhafte und zumindest für mich hochinteressante Lektüre, das Thema finde ich einfach spannend: Wie verstehen wir?
   Für Bertram wohnt allem Verstehen ein Potential von Freiheit inne und es ist auch deshalb nicht selbstverständlich, wie andere
   Denker meinen. Für ihn überschreiten Subjekte die Gegenwart immer auf die Zukunft hin. Die Einheit, die sie ausbilden, resultiert
   aus der Spannung, die sich zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft herstellt. Diese Überschreitung beruht für Bertram
   auf Prozessen der Selbstkritik, die für alles Verstehen konstitutiv ist. Aus der Selbstkritik konstituieren sich Subjekte seiner
   Meinung nach in ihrem Verstehen so, dass sie sich auf die Zukunft, und damit auf Gegenstände des Verstehens und andere, mit
   denen sie interagieren, hin öffnen. Subjekt bilden ihr Verstehen in dem Sinne fort, dass sie implizit und explizit die eigenen
   Verständnisse immer wieder selbstkritisch befragen. Dabei erscheint ihm Verstehen als eine Gemeinschaftsanstrengung, die nicht
   auf einer gemeinschaftlichen Normierung des Verstehens, sondern auf einer gemeinschaftlichen Kritik des Verstehens beruht. In
   Konflikten ringen die Subjekte gemeinsam um Kriterien für ihr Verstehen. Wichtig ist ihm die Betonung, dass Verstehen veränderlich
   ist und zwar nicht nur dadurch, dass man mit neuen Gegenständen des Verstehens konfrontiert ist, sondern vor allem dadurch,
   dass sich Subjekte gemeinsam mit anderen bewegen, sich aneinander reiben oder sich gemeinsam unterstützen. Die von Subjekten
   in der Gemeinschaft ausgehende Bewegung resultiert nach Bertram aus Selbstkritik. Dabei haben sie improvisatorische Fähigkeiten.
   Im gemeinschaftlichen Geschehen sind sie zugleich passiv und aktiv: Es besteht ein Zusammenhang von Impuls und Reaktion. Im Verstehen
   ist man zugleich Impulsgeber und Reagierender. Dabei ist eine improvisatorische Fähigkeit gefordert, immer wieder neu auf Impulse
   zu reagieren und sich dabei in den eigenen Reaktionen zu korrigieren. Impulse können auch von Gegenständen und Gemeinschaften
   ausgehen. Das fordert eine Stellungnahme heraus, was bedeutet, dass ein Subjekt seine Stimme erheben muss. Das kann aber nur
   gelingen, wenn es in seiner Wahrnehmung offen ist für das, was nicht dem Hergebrachten entspricht. Es muss eine Offenheit für
   Zusammenhänge bestehen, die unvertraut sind. Dazu braucht es auch die Fähigkeit die eigenen Fähigkeiten zur Disposition zu stellen.
   Darum hat das Subjekt sein Existenz für Bertram nicht vornehmlich im Hier und Jetzt, sondern ist als unabgeschlossen zu begreifen
   und überschreitet die Gegenwart darum konstitutiv. Subjekte sind dadurch, dass sie zu sich selbst Stellung nehmen. Aufgrund seiner
   Offenheit ist das Subjekt nicht abgesichert, es kann marginalisiert und ausgeschlossen werden. Darum ist es für Bertram, wichtig,
   den Begriff des Subjekts mit postkolonialer Theorie zu konfrontieren. Seine Theorie erläutert er unter anderem an einer Situation
   
         radikaler Interpretation: Eine Feldlinguistin ist mit einem bisher unbekannten Stamm konfrontiert, für dessen Sprache keine
   Übersetzung vorliegt. Wie kann Verstehen gelingen?          Also das Buch ist für philosophische Anfänger meiner Meinung nach weniger geeignet, obwohl es nicht unbedingt irgendeine vorherige Lektüre von irgendwelchen Klassiker voraussetzt. Alles wird ziemlich gut erklärt, allerdings hat das Thema eine gewisse Komplexität. Eine wirklich beeindruckende Theorie des Verstehens wird hier entfaltet und ein Überblick über wichtige bisherige Theorien wird gegeben mit Vorstellung überwiegend doch ziemlich aktueller Modelle. Jürgen Czogalla, 27.10.2024  
           
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