Philosophisch-ethische Rezensionen
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Georg W. Bertram, Verstehen in einer Situation radikaler InterpretationEine solche Situation ist laut Bertram zunächst von Quines und Davidson entworfen
worden. Es geht darum, in einer extremen Situation Verstehen zu erklären, was dann sozusagen paradigmatisch für alle
andere Fälle von Verstehen angewendet werden kann. Eine solche Situation kann etwa die sein, dass eine Feldlinguistin
mit einem Stamm konfrontiert wird, dessen Sprache und Gewohnheiten völlig unbekannt sind. Wie kann hier Verstehen gelingen?
Nach Bertrams Modell folgendermaßen: Um zu verstehen, braucht es seiner Meinung nach keiner Gemeinschaft der geteilten
Sprache, sondern einer Gemeinschaft des Konfliktes. Die Feldlinguistin kann die Stammesmitglieder nur verstehen, wenn
diese auf ihre Nachfragen eingehen und sich auf einen Disput der Verständnisse mit ihr einlassen. Sie muss also an der
spezifischen Praxis der Stammesmitglieder partizipieren, und zwar an einer Praxis der wechselseitigen, konfliktiven Auseinandersetzung.
Dabei versteht Bertram jede Form der Nachfrage, die eine Verständigung über Verständnisse eröffnet, in diesem Sinne als
Konflikt. Außerdem gewinnt die Feldlinguistin in dem Maße, in dem sie in die Gemeinschaft des Konfliktes aufgenommen wird,
an Subjektivität im Sinne der Freiheit, eigenständige Anstöße für die Befragung von Verständnissen geben zu können. Dabei
ist es zwingend, dass sie ihre Verständnisse in Konflikten in Frage stellen lässt. Sie versteht in dem Maße, in dem die
Stammesmitglieder auf ihre eigenständigen Reaktionen auf von ihnen ausgehenden Infragestellungen von Verständnissen eingehen.
Die Subjektivität des Verstehens ist eine Freiheit, die aus konfliktiven Auseinandersetzungen erwächst. Entscheidend ist
es, die eigenen Verständnisse von der Welt in Frage stellen zu lassen, um zu einem besseren Verständnis des Gegenübers
zu kommen. Es gilt nicht in eingefahrenen Verhältnissen zu verharren, sondern sich aus ihnen zu lösen. Dazu braucht es
der Reibung mit der Welt. Die Welt ist so nicht etwa die Mitte, die eine Ausbildung von Verständnissen aufeinander erlaubt,
sondern der Widerstand, der die Verständnisse in Bewegung setzt, so Bertram. So werden Wahrnehmungen, affektive Verläufe,
Imaginationen und praktische Vollzüge im Zuge des Verstehens verändert. Das alles lässt sich nach Bertram grob unter
3 Punkte fassen: Gemeinschaft des Konflikts, Freiheit aus dem Konflikt und Reibung an der Welt.
27.10.2024 |