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Philosophisch-ethische Rezensionen
(Erscheinungsdatum der rezensierten Bücher: 20. und 21. Jahrhundert)

Omri Boehm, Radikaler Universalismus. Jenseits von Identität, Berlin 2022

Die liberale Demokratie steckt, so meint Boehm, seit Jahren in der Krise. Denn ihre geistigen und moralischen Grundlagen, für Boehm Aufklärung, Universalismus und Vernunft, sind wachsenden intellektuellen Angriffen ausgesetzt, die nicht nur in philosophischen Fachbereichen, sondern auch in politischen Kreisen zunehmend verfangen. Diese Angriffe identifiziert er als Formen des Postmodernismus, der zum Beispiel auch die Träume eines Martin Luther King nicht ernstnehmen kann. Linken wie Rechten gelten solche Träume gleichermaßen als Illusionen. Das Projekt der Aufklärung ist aus dieser Sicht ein Irrweg. Dagegen wird versucht das Konzept des Universalismus durch eine konkrete Identität zu ersetzen. Der universelle Humanismus erscheint hier als Maske, die den Herrschenden erlauben Strukturen der Ausgrenzung und Ausbeutung aufrecht zu erhalten. Dagegen möchte der Autor an der Idee des Universalismus als Waffe und als Kompass festhalten und dafür ist sein Buch ein Plädoyer. Ein unverzichtbarer Denker in dieser Hinsicht ist für ihn Kant, der darauf, so Boehm, bestand, dass der Begriff der Menschheit abstrakt bleiben müsse: Frei von biologischen, zoologischen, historischen und soziologischen Tatsachen. Diese Art von metaphysischer Menschheitsidee ist seiner Meinung nach spätestens seit den biblischen Propheten bekannt und Kant hat sie dann in säkulares Denken übersetzt, ohne in den Glauben oder eine wissenschaftliche Reduktion zurückzufallen. Für Kant ist das, was den Menschen menschlich macht, keine natürliche Eigenschaft, sondern die Freiheit seiner Verpflichtung auf moralische Gesetze zu folgen. Er ist offen für das, was er tun soll, und ist deswegen ein Subjekt von absoluter Würde. Dieses moralische Gesetz ist unabhängig von menschlichen Konventionen, Interessen, Wünschen und guten Ideen. Der Kampf gegen systemische Ungerechtigkeit und falschen Universalismus kann für Boehm nur im Namen des wahren Universalismus und nicht im Namen der Identität geführt werden. In diesem Sinne legt er drei Texte in seinem Buch neu aus: Die amerikanische Unabhängigkeitserklärung, Kants Essay "Was ist Aufklärung?" und die alttestamentliche Erzählung von der "Bindung Isaaks", die er versucht in ihrer ursprünglichen Gestalt zu rekonstruieren und sie so überraschend neu interpretiert.

Boehms Buch ist schmissig und prägnant geschrieben und entsprechend ist das Lesevergnügen groß. Der Kant'sche radikale Universalismus wird dabei über den grünen Klee gelobt in Absehung, bzw. nicht Diskussion seines oft auch abstoßenden Rigorismus. Da müsste man meiner Meinung nach nicht nur einfach loben, sondern weiterdenken und dann womöglich gerade nicht radikal. Das sehe ich in diesem Buch zwar weniger, aber nichts destotrotz ist es ein fulminanter, essayistischer Beitrag zu dem, auf was sich unsere Gesellschaft gründen sollte, mit vielen anregenden Gedanken.

Jürgen Czogalla, 03.09.2022

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