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Philosophisch-ethische Rezensionen
(Erscheinungsdatum der rezensierten Bücher: 20. und 21. Jahrhundert)

Isolde Charim, Ich und die Anderen. Wie die neue Pluralisierung uns alle verändert, Wien 2018

Für Charim ist die Pluralisierung ein Faktum, das wir nicht mehr rückgängig machen können. Und die Pluralisierung verändert uns alle. Es verändert sich die Art, wie wir unserer Gesellschaft angehören und es verändert sich die eigene Identität. Es gibt keine selbstverständliche Kultur mehr. Wir sind nicht mehr auf die selbe Art Ich. Nach Meinung der Autorin gibt es keinen verbindlichen Typus mehr. Sie spricht von 3 Zeitaltern des Individualismus, das erste Zeitalter von 1800 bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts: Hier tritt für sie der Individualismus nicht als Vereinzelung auf, sondern dem Einzelnen wurde die Gestalt eines nationalen Typus angeboten, der den Individualismus sozusagen homogenisierte. In den 1960er Jahren beginnt sich die starke Bindung des Einzelnen an die Großgruppe und eine sich daraus ergebende starke und eindeutige Identität aufzulösen. Im 2. Individualismus verweigert sich der Mensch vorgegebenen Ausdrucksformen und sucht seinen eigenen, selbstbestimmten Weg, das Leben als persönliches Projekt. Zentraler Wunsch des 2. Individualismus ist es nach Meinung der Autorin sich nicht zu verändern, sondern sich zu bestätigen. War die Öffentlichkeit des ersten Individualismus ein Raum des Gleichen, so wird sie hier ein Raum der Differenz. Heute stehen wir nach Meinung der Autorin im Zeitalter des 3. Individualismus. Es zeichnet sich durch eine starke Erodierung der nationalen Gestalt aus. Die Demokratie bleibt darum für die Autorin nackt zurück, eben ohne nationale Gestalt. Das zentrale Moment der Demokratie ist für sie die Leere. Daraus ergibt sich für den Einzelnen zwingend ein Weniger, das Minus-Subjekt, das Weniger-Ich. Der 3. Individualismus bedeutet die Einführung der Kontingenz ins Herz der Identität. Wir müssen uns daher unserer Identität ständig vergewissern. Pluralisierung bedeutet für die Autorin daher für den Einzelnen weniger Identität. Wir sind heute weniger Ich als früher. Wir sind keine vollen Ichs mehr.

Die Thesen der Autorin entbehren nicht einer gewissen Faszination, aber im Grunde finde ich sie denn doch ganz einfach platt und auch sehr oft nicht plausibel. Sie empfindet die derzeitige europäische Zeit ganz anders als ich. Wofür haben sich denn die Menschen eingesetzt die für Demokratie gekämpft haben und gegen Despotismus und die Herrschaft Weniger und für Menschenrechte? Waren sie etwa der Meinung, dass wenn ich mich dem Anderen öffne, auf Fremdes mutig und neugierig zugehe, dass ich dann etwas von meiner Identität verliere? Ich bezweifle, dass Engstirnigkeit, Abgeschottetheit und Größenwahn wirklich zu einer vollen Identität führen können. Was die Autorin als Weniger-Ich tituliert ist für mich das reichere und vollere. Und gerade das gilt es immer wieder neu zu erschließen und zu stärken. Das hat auch etwas damit zu tun die Würde des Anderen zu achten, der in einem bestimmten Rahmen das Recht hat seinen eigenen Weg zu gehen und der damit letztlich auch auf seine Weise alle bereichern kann. Das tut er, wenn er den Weg mit der Gemeinschaft geht, mit den Sitten, die er verbessern, mit dem Recht, für das er sich engagieren kann. Zusammen nicht bloß mit Zahlen und Schemata im Blick, sondern mit wirklichen Menschen. Es geht deshalb für mich auch nicht darum Begegnungszonen zu schaffen, von denen die Autorin vorschlägt, dass sie ein Gefühl der Unsicherheit vermitteln sollen, damit alle vorsichtig sind und sich an Regeln halten. Viel entscheidender ist doch dagegen die Freude am Kontakt mit Menschen auf die man in unserem Kulturkreis auch mutig und in Sicherheit zugehen kann. Dies weiterzuvermitteln ist entscheidend wichtig.

Fazit: Es gibt schon eine europäische Kultur, aber die Autorin bekommt sie eben mit ihrem die Sicht zubretternden Schema überhaupt nicht in den Blick.

Jürgen Czogalla, 29.09.2018

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