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Philosophisch-ethische Rezensionen
(Erscheinungsdatum der rezensierten Bücher: 20. und 21. Jahrhundert)

Miranda Fricker, Epistemische Ungerechtigkeit. Macht und die Ethik des Wissens, München 2023

Frickers Buch ist bereits 2007 im Englischen erschienen und liegt jetzt also tatsächlich auch als deutsche Übersetzung vor. Das Buch hat von Anfang an Furore gemacht, weil es vielen Menschen die ausgegrenzt, diskriminiert und nicht ernstgenommen werden, eine Stimme verleiht und die hier die eigenen negativen Erfahrungen ausgesprochen finden, für die sie selbst vorher irgendwie keine eigenen Worte gefunden haben, obwohl es sich bei der von Fricker angesprochenen Ungerechtigkeit um ein weit verbreitetes Phänomen handelt. Worum geht es also in diesem schon fast klassischem Text moderner, zeitgenössischer Philosophie? Es geht um die Zeugnisungerechtigkeit und um hermeneutische Ungerechtigkeit, die sowohl erkenntnistheoretischer als auch ethischer Natur ist. Es handelt sich dabei um ein Unrecht, das jemanden speziell als Wissender zugefügt wird. Unter Zeugnisungerechtigkeit versteht die Autorin, wenn einer Sprecherin aufgrund von Vorurteilen geringere Glaubwürdigkeit zugebilligt wird. Dazu liefert sie dann zahlreiche Beispiele: Sei es, dass Schwarze nicht ernst genommen werden, weil sie schwarz sind oder Frauen, weil sie weiblich sind (beides Formen einer systemischen Zeugnisungerechtigkeit, die sich sozusagen für die betreffende Person über alle sozialen Bereiche hin erstreckt), oder wenn z.B. in einem Kongress von Naturwissenschaftlern der Bioethiker nicht für ganz voll genommen wird (also keine systemische Zeugnisungerechtigkeit, da man ihn in anderen Kontexten wohl für voll nimmt). Unter hermeneutischer Ungerechtigkeit versteht sie, wenn eine Lücke in den kollektiven Interpretationsressourcen jemanden daran hindern, die eigenen Erfahrungen sinnvoll zu deuten. So ist es z.B. noch nicht allzu lange her, dass Frauen, die im Job von Männern sexuell belästigt wurden, überhaupt die Begriffe fehlten, um davon anderen verständlich zu berichten und so der Situation ein Ende zu setzen. Der Begriff der sexuellen Belästigung ist nämlich noch gar nicht so alt. Fehlen die Begriffe, kann man sich natürlich schlecht verständigen, bzw. kommt dem Zuhörer vielleicht sogar etwas verwirrt vor. Gibt es für Zeugnisungerechtigkeit sozusagen individuelle Schuldige, die trotz deutlichen Gegenbeweisen ihre Vorurteile nicht überwinden können und den Sprecher durch Missachtung entmenschlichen (denken wir z.B. gerade in der Zeit der Rassentrennung in den USA an so manche krassen Fehlurteile der Gerichte gegen Schwarze), ist die hermeneutische Ungerechtigkeit eine strukturelle Ungerechtigkeit, beruhend in der Ökonomie kollektiver Deutungsmöglichkeiten. In beiden Fällen wird die betroffene Person unfair behandelt, mit teils für sie gravierenden Auswirkungen. Anderseits, wenn wir jemanden zu Unrecht nicht ernst nehmen und ihm nicht richtig zuhören, können uns wichtige Erkenntnisse verloren gehen, die einfach an unseren Vorurteilen abprallen. Und hier ist nun eine philosophische Autorin, die dieses Unrecht ausspricht, analysiert und Lösungsmöglichkeiten anbietet. Was können wir tun? Vor allem müssen wir tugendhafte Zuhörer werden. Dazu gehört ein kritisches Gewahrwerden für ein Vorurteil, das unsere Wahrnehmung des Sprechers verzerrt und das wir überprüfen sollten. Ein schlechter Zuhörer ist in diesem Sinne jemand, der nichts gegen die antirationale Wirkungsweise der Identitätsmacht unternimmt, die sein Glaubwürdigkeitsurteil verzerrt. Gutes Zuhören setzt also ein ausgeprägtes kritisches Bewusstsein von sozialen Beziehungen voraus. Der Zuhörer muss damit rechnen, dass sich das identitätsbezogene Machtverhältnis zwischen ihm und der Sprecherin auf seine spontane Wahrnehmung auswirkt. Und schließlich sollte er wissen, dass sich dieses Verhältnis auch auf das Verhalten der Sprecherin auswirkt. Man sollte nun alle negativen Auswirkungen von Vorurteilen auf die eigenen Glaubwürdigkeitsurteile neutralisieren, indem man die Glaubwürdigkeit nach oben hin korrigiert. Die Tugend der Zeugnisgerechtigkeit ermöglicht es also, dass die Hörerin ihre Vorurteile bei Glaubwürdigkeitsurteilen verlässlich neutralisiert. Wir können uns diese Tugend als naiv vorstellen, etwa bei Kindern, die unvoreingenommen auf andere zugehen. Oder spontan, durch persönliche Vertrautheit. Die zweite Möglichkeit ist die, die durch den vollständigen Besitz der Tugend der Zeugnisgerechtigkeit entsteht. Wer die Tugend besitzt, verfügt spontan und unmittelbar über sie, ohne aktives Nachdenken, Nachahmen oder Einübung. Sie liefert spontan bereits korrigierte Glaubwürdigkeitsurteile. Befähigt wird der Hörer dazu, indem er vorher genügend korrigierende Erfahrungen gesammelt hat, sodass er nun spontan korrigierende Glaubwürdigkeitsurteile fällen kann. Er hat die Anforderungen einer reflexiven Glaubwürdigkeitsbeurteilung verinnerlicht.

Nun hoffe ich, dass schon aus diesen wenigen Zeilen von mir deutlich geworden ist, wie wichtig das Buch ist. Also, wenn Ihr es tatsächlich noch nicht kennt und Ihr noch nie etwas von diesem Thema mitbekommen habt, dann könnt Ihr jetzt zugreifen und Euch das Buch auf Deutsch besorgen. Der Schwierigkeitsgrad ist doch recht erträglich und die Autorin macht ihre Punkte gut klar mit vielen Beispielen aus Film, Literatur und Gesellschaft. Es ist aber nichtsdestotrotz ein forderndes Buch, und auch nicht ohne Längen.

Jürgen Czogalla, 30.07.2023

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