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Philosophisch-ethische Rezensionen
(Erscheinungsdatum der rezensierten Bücher: 20. und 21. Jahrhundert)

Ulrich Greiner, Schamverlust. Vom Wandel der Gefühlskultur, Reinbek bei Hamburg 2014

Ulrich Greiner stellt in seinem Buch fest, dass manche Verhaltensweisen, die vor ein, zwei Generationen noch als skandalös angesehen wurden, heute üblich seien. Es hat eine Entformalisierung stattgefunden, d. h. das ursprünglich strenge Reglement des Verhaltens hat sich weitgehend aufgelöst. Es hat eben ein Wandel stattgefunden hinsichtlich der Übereinkunft des Gebotenen und Erlaubten. Aber das bedeutet eben nicht, dass mit der Zeit eine immer größere Enthemmung stattfindet, sondern Greiner stellt fest, dass gerade in unserer Zeit sehr viele Kontrollmechanismen wirken würden, z. B. durch verinnerlichtes Leistungsdenken oder durch den von Staat und Internet-Konzernen überwachten Datenverkehr. Greiner selbst bezeichnet sein Buch als den Versuch, die Gefühlskultur der eigenen Zeit zu betrachten. Dazu, so meint er, braucht es einige Distanz, die man z. B. einfach durchs Älterwerden, aber auch dadurch erreicht, wenn man den vergleichenden Blick auf die Vergangenheit richtet, wie sie uns durch zahllose Romane und Erzählungen vermittelt wird. Dabei, so betont er, verfolgt sein Buch keinen wissenschaftlichen Zweck. Aber er möchte dem Wandel der Gefühlskultur in der Zeit auf den Grund gehen. Dabei wird sich eine zentrale These verdichten, nämlich die, dass die alte Schuld- und Schamkultur überwiegend einer Peinlichkeitskultur gewichen ist. Dabei versteht er unter Schamgefühl das Empfinden von Schuld aufgrund der Beschädigung der Selbstachtung, das sich der eigenen Herrschaft entzieht, tief in die Seele dringt und sich urplötzlich und heftig ereignet. Unter Peinlichkeit versteht er dagegen den bloßen Verstoß gegen eine äußere Verhaltensregel, bei der man von anderem beobachtet wird. Dieser Entwicklung zum Heute geht er dann in seinem Buch nach, in dem er aus vielen literarischen Highlights entsprechende Passagen sehr anschaulich und unterhaltsam referiert. Er nimmt aber auch immer wieder auf klassische philosophische, soziologische und psychologische Texte der Moderne, bzw. der Gegenwart Bezug. Ich persönlich fand besonders den Verlauf vom Anfang des 20. Jahrhunderts  von einer Verhaltenskultur des Ideals der Kälte und Distanz, wie sie etwa von Ernst Jünger, als ein Schutzschild gegen die Abschmelzung und Auflösung des eigenen Kerns, bis hin zum Heute, dem, was Greiner als das Ideal der Verhaltenskultur der Wärme bezeichnet, interessant:  Das Wärmegebot authentisch zu sein hat das Kältegebot der Distanziertheit inzwischen abgelöst.

Das Buch liest sich sehr gut und das Thema selbst ist hochinteressant. Vor allem aber macht es – durch immer wieder auch inhaltliches Erzählen und Bezugnehmen auf Hochliteratur – Lust darauf, mal wieder ein sehr gutes und hier vorgestelltes Buch (womöglich nochmals, es handelt sich ja zumeist wirklich um klassische Texte) in die Hand zu nehmen und zu schmökern, sei es nun, Kafka, Freud, Kierkegaard oder Thomas Mann oder auch mal ein etwas anderes Buch wie etwa Charlotte Roche's "Feuchtgebiete" (und viele, viele andere). Dabei wurde ich sehr gut unterhalten (auch wenn sich der allerhöchste Wow-Effekt bei mir nicht einstellen wollte) und empfehle dieses Buch daher sehr gerne weiter.

Jürgen Czogalla, 01.07.2014

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