Philosophisch-ethische Rezensionen
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Ulrich Greiner: Verteidigung der Gesellschaft gegen die Gemeinschaft bei Helmuth Plessner
Öffentlichkeit, als Gegensatz zur Intimität gedacht, beginnt nach Plessner dort, wo Liebe und blutsmäßige Verbundenheit aufhören. Sie
umgibt eine Gemeinschaft als der offene, ewig unausschreitbare Horizont von Möglichkeitsbeziehungen. Vor ihr sucht man sich zu schützen, in dem
man Sphären gemeinschaftlicher Vertrautheit aufbaut und aufsucht. Dadurch mindert sich auch das soziale Risiko. Das Individuum gibt sich hier
eine Form, in der es unangreifbar, gleichwie beim Anlegen einer Rüstung, wird, und dann so gewappnet, den Kampfplatz der Öffentlichkeit
betreten kann. Diese Rüstung besteht dann zum Beispiel aus angemessener Kleidung und des zu einer bestimmten Fraktion gehörenden Zusammenspiels
von Gestik, Mimik und Sich-Benehmens, das dann zusammengenommen eine Art von Kodex darstellt. So herrscht laut Plessner in der Gesellschaft,
zumindestens solange grundlegende Konstellationen noch unklar sind, das Gebot der Distanz und Kälte zur Vermeidung von Peinlichkeit. Hier wäre
es unangebracht, unmotiviert und plötzlich in den Modus des Gemeinschaftlichen und Familiären zu wechseln, denn das würde ja die Gefahr
heraufbeschwören, sich der Lächerlichkeit preiszugeben. Es geht hier nach Greiner um Selbstbeherrschung und Contenance („Kälte“), im Gegensatz
zu einem Sich-Unverstellt-Darbietens, einem wahrhaften, rückhaltlosen Enthüllens der eigenen Befindlichkeit („Wärme“), was man heute auch als
„authentisch“ bezeichnen könnte. Während Plessner, so Greiner, noch betont, dass wir solcher Kältehemmungen um unserer selbst willen bedürften,
wäre in heutiger Zeit zu beobachten, dass das Wärmegebot im Gegensatz zum Kältegebot dominant geworden wäre. So wie die heutige Mode auch kein
Korsett mehr verlange, so legten auch moderne Umgangsweisen nahe, sich möglichst unverstellt, spontan und authentisch zu geben. Heute können
wir nämlich eine Aufsplitterung in Teilöffentlichkeiten beobachten, die untereinander kaum noch Kontakte pflegen würden und kaum noch
voneinander wüssten. In diesen Teilöffentlichkeiten ist die Wärme zu Hause, nicht der kalte Typus, der Wert auf Haltung und Form nimmt, hier
ist man unter „Freunden“ und Gleichgesinnten. Anstelle der Scham drohe hier aber dem Individuum die Gefahr der Peinlichkeit, die dann entsteht,
wenn man sich dem Gleichklang der Masse nicht in rechter Weise anpasst und etwa durch falsche Gesten oder unangebrachtes Verhalten auffällig
wird, oder mit dem allgemeinen Geschmack nicht mehr Schritt halten kann. Man muss sich jetzt sozusagen vor seinen Freunden ständig in acht
nehmen.
01.07.2014 |