Philosophisch-ethische Rezensionen
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Jürgen Habermas, Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik, Berlin 2022Das Buch besteht aus 3 Beiträgen, zunächst einmal den kurzen Essay
"Überlegungen und Hypothesen zu einem erneuten Strukturwandel der politischen Öffentlichkeit", das macht auf meinem
Amazon Kindle E-Book-Reader 53% des Buches aus, dann "Deliberative Demokratie. Ein Interview", 16% des Buches und
schließlich noch "Was heißt ‚deliberative Demokratie'? Einwände und Missverständnisse", 17% des Buches. Der Rest sind
Anhänge 23%. Der Schwerpunkt liegt als bei dem 1. Mini-Essay, den Rest empfinde ich als mehr oder weniger leichtgewichtiges
Füllmaterial, um so etwas wie ein Buch überhaupt veröffentlichen zu können, steht aber nichtsdestotrotz natürlich
thematisch noch irgendwie im Zusammenhang zu dem 1. Essay.
Um was geht es nun in "Überlegungen und Hypothesen zu einem erneuten Strukturwandel der politischen Öffentlichkeit"? Der Autor
knüpft ausdrücklich an sein vor 6 Jahrzehnten erschienenes Buch "Strukturwandel der Öffentlichkeit" an - das allerdings natürlich
ein ganz anderes Kaliber hat als dieser Mini-Essay. Hier gibt es zu diesem Klassiker natürlich immer wieder zahlreiche Querverweise.
Er skizziert die digital veränderte Medienstruktur und deren Auswirkungen auf den politischen Prozess. Er sieht in der digitalisierten
Kommunikation eine Tendenz zur Entgrenzung, aber auch zur Fragmentierung der Öffentlichkeit. Er spricht das Zeitungssterben an
und die einstweilen kaum regulierte Netzkommunikation die sich im Schatten kommerzieller Verwertung vollzieht. Exklusiven Nutzern
sozialer Medien bescheinigt er eine Tendenz der halböffentlichen, fragmentierten und in sich kreisenden Kommunikation, die deren
Wahrnehmung von politischer Öffentlichkeit deformiert, wodurch für ihn bei einem wachsenden Teil der Staatsbürger eine wichtige
Voraussetzung für den mehr oder weniger deliberativen Modus der Meinungs- und Bildungsfreiheit gefährdet wird. Das eigentlich
Neue an den neuen Medien ist für ihn deren Plattformcharakter, die alle potenziellen Nutzer dazu ermächtigt zu selbständigen und
gleichberechtigten Autoren zu werden. Die Plattformbetreiber produzieren, redigieren und selegieren nicht, sondern stellen nur
als "unverantwortliche" Vermittler die digitalen Verbindungen her. Durch überraschende Kontaktverknüpfungen und inhaltlich
unvorhersehbare Diskurse, die so entstehen, verändern sie nach Habermas den Charakter der öffentlichen Kommunikation tiefgreifend.
Klassisch sieht es für Habermas so aus, dass eine lineare und einseitige Verbindung zwischen Sender und Publikum besteht, der
eine als öffentlich identifizierbarer, für die Veröffentlichung verantwortliche Produzent. Redakteure und Autoren auf der einen,
auf der anderen Seite das anonyme Publikum von Lesern, Hörern und Zuschauern. Bei Plattformen sieht es so für ihn aus: Eine
vielseitig vernetzungsoffene kommunikative Verbindung für den spontanen Austausch von Inhalten zwischen potentiell vielen Nutzern,
die sich prinzipiell als gleiche und selbstverantwortliche Teilnehmer begegnen. Diese dezentralisierte Verbindung ist reziprok,
aber inhaltlich ungeregelt. Habermas stellt nun folgende Frage: "…Wie der Buchdruck alle zu potentiellen Lesern gemacht hatte,
so macht die Digitalisierung heute alle zu potentiellen Autoren. Aber wie lange hat es gedauert, bis alle lesen gelernt hatten?..."
Da hier keine professionelle Auswahl und diskursive Prüfung der Inhalte erfolgt, spricht er vom einem erodierenden Gatekeeper-Modell
der Massenmedien. Habermas Meinung nach sollten sich auch die Plattformbetreiber nicht jeder publizistischen Sorgfaltspflicht
entziehen, sondern sie sind verantwortlich und in Haft zu nehmen für die News in ihren Netzwerken, auch wenn sie diese weder
selbst produzieren noch redigieren; denn diese Nachrichten haben eine meinungsbildende Kraft. Für ihn ist es ein
verfassungsrechtliches Gebot eine Medienstruktur aufrechtzuerhalten, die den inklusiven Charakter der Öffentlichkeit und einen
deliberativen Charakter der öffentlichen Meinungs- und Willensbildung ermöglicht. Genauere Hinweise, wie er sich so eine
Regulierung vorstellt und gar Hinweise, mit welchen Gefahren das auch verbunden sein kann, findet man in dem kurzen Essay leider
nicht.
Ich meine: Anspruchsvolle, nachdenkenswerte Gedanken über die neuen Medien und ihre Wirkungen auf unsere politischen Strukturen und unsere deliberative Demokratie. Trotzdem habe ich bei all der Kürze nicht den Eindruck, eine wirklich nahrhafte, befriedigende Mahlzeit eingenommen zu haben. Eher so etwas wie eine hochwertige Vorspeise, die Lust auf mehr macht. Also auch mit den 2 anderen nachgeschobenen Beiträgen insgesamt kein wirklicher Buchvolltreffer. Aber nichtsdestotrotz noch eine Empfehlung wert. |