Philosophisch-ethische Rezensionen
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Martin Hägglund, Dieses eine Leben. Glaube jenseits der Religion. Freiheit jenseits des Kapitalismus, München 2024Hägglund stellt fest, dass sowohl unser Leben als auch unsere Projekte
endlich sind, d.h. wir sind von anderen abhängig und leben in einem Verhältnis zum Tod. Wir sind endlich, weil wir uns
allein nicht am Leben halten können und weil wir sterben werden. Er erzählt dem Leser, dass der Tod für alles, was er
liebt, zwar schmerzlich ist, dass er nicht sterben will und alles, was er liebt, erhalten möchte, zugleich aber nicht
möchte, dass sein Leben unendlich ist. Für ihn ist ewiges Leben nicht nur unerreichbar, sondern auch nicht erstrebenswert,
weil es eben diese Fürsorglichkeit und Leidenschaft vernichten würde, die sein Leben antreibt. Im Himmel, so meint er,
wäre unser Leben bedeutungslos, weil unsere Handlungen keinen Zweck hätten. Denn was wir tun und lieben, ist für uns nur
wichtig, weil wir uns als sterblich begreifen. Das Bewusstsein der Unersetzlichkeit des Lebens ist für ihn untrennbar
mit dem Wissen verbunden, dass es einmal enden wird. Als säkulären Glauben bezeichnet er unseren Sinn für die Endlichkeit
und für die Zerbrechlichkeit von allem, was uns wichtig ist. Er bedeutet sich einem Leben hinzugeben, das enden wird, und
Vorhaben zu verfolgen, die auch scheitern können. Säkularer Glaube ist einer zeitlich begrenzten Form des Lebens verpflichtet
und von diesem Glauben will er seine Leser überzeugen, vor allem auch in dem er aufzeigt, dass der religiöse Glaube ein
ewiges Leben propagiert, was letztlich nicht erstrebenswert ist, sondern im Grunde Tod bedeutet. Endliches Leben ist für
ihn keine niedrigere Form der Existenz, sondern: Jedes lebenswerte Leben muss endlich sein und bedarf des säkularen Glaubens.
In ihm drückt sich ein Engagement für das - endliche - Weiterleben aus, der Verlängerung und qualitativen Verbesserung
des Lebens. Dagegen wäre ohne Verlustrisiko unser Einsatz und unsere Verpflichtung nicht nötig. Säkularer Glaube ist
darum nötig um ethisches, politisches und verwandtschaftliches Engagement zu motivieren. Deshalb bildet er für den Autor
den Kern des Verantwortungsgefühls. Nur im Licht des Wissens um den Tod, so meint er, können wir uns fragen, was wir mit
unserem Leben anfangen sollen, und sind wir in der Lage uns mit unserem Handeln Risiken auszusetzen. Religiöse Vorstellungen
von Ewigkeit sind darum für ihn letztlich Vorstellungen von Unfreiheit. Vom ewigen Glück umfangen, wüssten wir nichts
mehr mit unserem Leben anzufangen und wären jeglicher Handlungsfähigkeit enthoben. Zum säkularen Glauben gehört auch das
Versprechen eines säkularen Lebens für ihn, wie er es bei Marx findet, den er neu interpretiert. Er meint, dass nur vor
dem Hintergrund einer Verpflichtung zur Freiheit wir Unterdrückung, Ausbeutung und Entfremdung überhaupt begreifen können.
Darum ist für ihn Marx' Kritik am Kapitalismus nicht ohne seinen Freiheitsbegriff verständlich. Hägglund arbeitet dann
heraus, dass unser wahres, unabänderliche Eigentum nicht in Besitz und Gütern, sondern in unserer Lebenszeit besteht.
Wer sich im Zweck seiner Arbeit nicht erkennt, ist seiner Arbeitszeit entfremdet. Um wirklich frei zu leben, müssen wir
uns darum sowohl im Zweck unserer Arbeit als auch in den gesellschaftlichen Bedingungen dieser Arbeit, die uns am Leben
erhält, wiedererkennen, genau so wie wir unsere Verpflichtung zur Freiheit in unseren Institutionen wiedererkennen müssen,
von denen wir abhängen und an denen wir beteiligt sind. Ziel ist es letztlich, dass wir selbst entscheiden können, was
wir mit unserer Zeit anfangen sollten. Um das zu erreichen, müssen wir eine Neubewertung durchführen, die unsere endliche
Lebenszeit als Bedingung dafür begreift, dass etwas von Bedeutung ist oder Wert hat. Hägglund stellt dazu seine Vision
eines demokratischen Sozialismus vor, der darauf verpflichtet ist, die materiellen und geistigen Bedingungen dafür zu
schaffen, dass wir alle frei leben können - und zwar in wechselseitiger Anerkennung unserer gegenseitigen Abhängigkeit.
Alles hängt für Hägglund davon ab, was wir mit unserer gemeinsamen Zeit anfangen. Von diesem Hintergrund aus ist der
Niedergang des religiösen Glaubens an die Ewigkeit natürlich nicht mehr bedauernswert. In diesem Zusammenhang arbeitet
sich der Autor nicht nur an der Bibel, buddhistischer Philosophie, den Stoikern, sondern auch an Augustinus, Martin
Luther, Dante Alighieri, Meister Eckhart, Baruch Spinoza, Kierkegaard, Paul Tillisch, C.S. Lewis bis zu Charles Taylor
ab. Seine Vision eines
demokratischen Sozialismus entwickelt er dann in der Auseinandersetzung mit Denkern wie Mill,
Rawls, Keynes, Adorno uns Hayek. Außerdem stellt er den Einsatz von Martin Luther King Jr. vor und wähnt in auf seiner
Seite. Neben Marx ist für ihn auch noch Hegel besonders für seine Analysen wichtig. Hägglund stellt fest, dass gerade
weil der säkulare Glaube immer prekär sein wird, sich gerade in dieser Zerbrechlichkeit die Chance auf unsere geistige
Freiheit eröffnet. Es macht wirklich Freude, Hägglunds Überlegungen zu folgen, sie sind philosophisch gewichtig und betreffen unsere Lebensführung und die Art, wie wir zusammen leben sollen. Zugleich ist es auch ein Generalangriff auf die Religionen, also eine bedenkenswerte Religionskritik, ohne Hass und mit Argumenten vorgetragen, die von eigenen hehren Idealen herkommen und der eigenen Wertschätzung und Freude am Leben. Was dabei herauskommt ist dann meiner Meinung nach eine ziemlich unrealistische, verkopfte Utopie, die sich weithin auf Marx stützt und deren Verwirklichung mir nicht nur in weiter Ferne erscheint, sondern womöglich in eine neue sozialistische Katastrophe führt. Trotzdem ist das ein tolles Buch, mit vielen tiefschürfenden Ideen und Analysen, klar und verständlich geschrieben, aber dabei nicht wirklich einfach. Jürgen Czogalla, 20.05.2024 |