Philosophisch-ethische Rezensionen
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Philipp Hübl, Moralspektakel, Wie die richtige Haltung zum Statussymbol wurde und warum das die Welt nicht besser macht, München 2024Hübl stellt fest, dass unser moralischer Kompass so fein
justiert ist wie nie zuvor, dass aber bei einigen Leuten diese moralischen Sensoren inzwischen so
empfindlich sind, dass sie auch dort noch Fehltritte meinen auf decken zu müssen, wo Normverletzungen
kaum noch nachweisbar sind oder wo gar kein messbarer Schaden entstanden ist. Dabei arbeitet er heraus,
dass besonders durch digitale Überwachung und durch digitale Präsentation ein Moralspektakel entsteht,
bei der es in der moralischen Auseinandersetzung letztlich gar nicht mehr um die Sache, sondern vorrangig um
Selbstdarstellung geht. Dann werden moralische Begriffe und Urteile nicht mehr dazu eingesetzt, um Probleme des
Zusammenlebens zu lösen, echte Missstände zu beseitigen oder für Gerechtigkeit zu sorgen, sondern als Symbole
für Status und Gruppenzugehörigkeit, oder als Waffen, um Macht und Einfluss auszuüben oder sich gegen Angriffe
und Druck von anderen zu verteidigen. Dazu gehören für ihn auch Fälle von Opfer-Hochstapelei, also Menschen, die
Straftaten erfinden, um einen für sie vorteilhaften Opferstatus zu erlangen. Dabei geht er von der These aus,
dass sich unsere Alltagsmoral fundamental von einer universellen Ethik der Menschenrechte unterscheidet: Er
meint, dass wir in der Alltagsmoral zumeist moralisch kurzsichtig und parteiisch sind und oft unserem
Bauchgefühl folgen. Und seiner Meinung nach hat uns die Evolution so geformt, dass wir alles versuchen, um bei
anderen Menschen Anerkennung zu finden und für mögliche Partner attraktiv zu sein, selbst dann, wenn wir das gar
nicht mehr selbst bemerken. Dabei sind die Fragen: Teilt mein Gegenüber meine Werte? Will ich mit ihr/ihm in der
Zukunft kooperieren? Will ich mit ihr/ihm befreundet sein oder sogar eine Liebesbeziehung eingehen? leitend.
Dagegen erscheint für ihn die philosophische Ethik, aus der die Idee der Menschenrechte entsprungen ist, eher
als ein Nebenprodukt der Evolution. Nun verführen uns, so Hübel, gerade die digitalen Medien zur moralischen
Effekthascherei: Wir sind versucht, es in der Selbstdarstellung zu übertreiben und uns z.B. als besonders
engagiert, sensibel, einfühlsam, oder unabhängig, selbstbestimmt und ehrgeizig im Internet zu präsentieren.
Darum gilt für Hübl die Formel: Statusspiel + digitale Medien = Moralspektakel. Für ihn ist ein Großteil der
aktuellen moralischen Diskussion tatsächlich eine Folge des Statusspiels, das oft in einen Statuskampf umschlägt:
Die Polarisierung der öffentlichen Diskussion, der Streit um kulturelle Aneignung und politische Korrektheit
oder die Motivation von Menschen, eine Deutschland- oder Regenbogenfahne ihrem Facebookprofil hinzuzufügen.
Hübl belegt dann seine Thesen mit etlichen empirischen Studien und gegenwärtigen Beobachtungen, weist auf die
Schäden hin, die das Moralspektakel verursacht und sucht
nach einem Gegengift. Die Thesen des Autors haben sicher etwas für sich, man kann damit wohl auch einige Extreme verständlich machen. Allerdings sehe ich weder mich noch die Mehrheit meiner Mitbürger in ein extremes Statusspiel oder Moralspektakel verstrickt. Allerdings weist Hübel auch darauf hin, dass sich diese überwältigende Mitte an Diskursen aktiv beteiligen sollte, damit nicht nur extrem profilierungssüchtige Influencer das Internet mit ihren Beiträgen beherrschen und ein Moralspektakel aufführen, sondern die Diskussionen sachlich geführt, nicht am eigenen Status orientiert, und an den besten Lösungen für die Gemeinschaft ausgerichtet sind. Gutes Buch, verständlich geschrieben zu einem spannenden Thema. Jürgen Czogalla, 16.06.2024 |