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Philosophisch-ethische Rezensionen
(Erscheinungsdatum der rezensierten Bücher: 20. und 21. Jahrhundert)

Philipp Hübl, 8 Vorschläge, wie man ein Moralspektakel verhindert

1.Gemeinsamkeiten statt Unterschiede

Das Denken in Opfergruppen ist für Hübl ein kollektivistischer Rückschlag. Es geht über die liberale Vorstellung hinaus, Minderheiten anzuerkennen und zu schützen und nimmt an, dass Minderheiten aufgrund einer Gruppenzugehörigkeit eine eigene Wahrheit und gelebte Erfahrung haben, die Außenstehende niemals begreifen und beurteilen können. Das führt nach Hübl zu einer radikalen Abgrenzung immer kleinerer Minderheitsgruppen von der Mehrheitsgesellschaft. Nur: Wenn die Menschen die Verschiedenheit zwischen Gruppen betonen, wird letztlich die Neigung zu Intoleranz und Gruppenfeindlichkeit verstärkt. Die Alternative: Statt als Gruppenmitglieder können sich die Menschen auch primär als Individuen begreifen. Das, was einen Menschen einzigartig macht, liegt letztlich nicht in Gruppenmerkmalen, sondern in seinen Werten und Gedanken. Man kann mit der Idee der Menschenrechte die Gemeinsamkeit aller Menschen akzeptieren, ohne den Kampf für Minderheitenrechte aufzugeben.

2. Universalismus statt Relativismus
Kritiker des Universalismus gehen manchmal so weit, die objektive Realität und objektiv gültige Normen zu verneinen und sie als beliebige soziale Konstruktion anzusehen. Aber: Ohne den Begriff der objektiven Wahrheit wüssten wir gar nicht, was eine Lüge oder ein Irrtum ist. Dagegen meint Hübl, dass viel dafürspricht, dass es nicht nur empirische, sondern auch moralische Tatsachen gibt, also verbindliche Normen wie Menschenrechte. Allerdings können wir uns über die richtige Moral genauso wie über Fakten auch irren. Allerdings: Wer es mit dem Kampf für mehr Gerechtigkeit ernst meint, muss darauf drängen universellen Werten Geltung zu verschaffen, statt die Idee verbindlicher Rechte völlig aufzugeben, so Hübl.

3. Fakten statt Ideologie
Weil uns etwa Fragen zur sozialen Gerechtigkeit nicht kalt lassen, sind wir für Wunschdenken anfällig. Ob Maßnahmen sinnvoll sind, können darum nur gute Daten belegen. Darum erscheinen Konflikte in einem neuen Licht, wenn man sie nicht kategorial, sondern statistisch beschreibt. Die öffentliche Diskussion gewinnt an Substanz, wenn sie evidenzbasiert und statistisch geführt wird. Andernfalls besteht die Gefahr, dass sie sich in ein Moralspektakel verwandelt.

4. Taten statt Symbole
In der digitalen Moralkultur, so Hübl, benötigen wir feine Sensoren, um Symbolpolitik, Schönfärberei und andere Formen der Selbstdarstellung zu entlarven.

5. Gerechtigkeit statt Identität
Statt den Blick auf Diskriminierung (wie im Identitätsmodell) zu verengen, sollte man lieber das Statusmodell verwenden, dass alle Fakten für Benachteiligung gewichtet. Dann gehört neben Diskriminierung und dem sozioökonomischen Status auch kognitive Fähigkeiten, Aussehen, soziale Kompetenz und moralisches Prestige mit in die Betrachtung. Da man hier Ungleichheit in allen Statushierarchien evidenzbasiert in den Blick nehmen kann, kann man mehr für Gerechtigkeit sorgen.

6. Diskussionskultur statt Einschüchterungskultur
Solange ein Fehltritt nicht eindeutig belegt ist, dürfen weder Institutionen noch Einzelpersonen auf einen Shitstorm eingehen. Bloßes, aggressives Dominanzverhalten darf sich nicht lohnen, sondern rationale Argumente müssen sich durchsetzen. Dazu bedarf es auch einer Shitstorm-Resilienz. Autoritäres Kommunikationsverhalten ist auch dann inakzeptabel, wenn man selbst das Anliegen dahinter teilt. Wer Einschüchterungskampagnen gehen Leute fährt, die anderer Meinung sind als man selbst, beweist damit keine moralische Überlegenheit, sondern dafür braucht es gute Argumente und inhaltliche Konfrontation.

7. Vernunftmoral statt Moralinstinkt
Um ausgewogen zu urteilen ist es hilfreich, wenn man sich fragt, wie man antworten würde, wenn man hinter dem Schleier der Anonymität verborgen wäre, was bedeutet, den eigenen Impuls der Selbstdarstellung durch Moral aktiv zu unterdrücken. Deswegen helfen dem Gemeinwohl diejenigen am meisten, die es wagen mit ihrer Aussage einen Reputationsschaden zu riskieren und sich weniger darum kümmern, was der Rest der eigenen Gruppe von einem denkt. Neben einem robusten Temperament, so Hübl, sind hier noch intellektuelle und moralische Bescheidenheit hilfreich. Wir müssen, so meint er, mehr wie Richter denken, die ihr Urteil fällen, nachdem sie alle Seiten gehört haben, und nicht wie Inquisitoren, die ihr Urteil schon kennen, bevor sie den Fall überhaupt verhandelt haben.

8. Demokratie statt Spektakel
Bei jedem Urteil sollte wir uns laut Hübl 2 Fragen stellen: Wie sehr geht es um ein echtes Problem? Und wie stark steht Selbstdarstellung im Vordergrund? Denn viele moralischen Selbstdarsteller sind gar nicht an dem interessiert, was sie lauthals fordern, oder lösen nicht ein, was sie versprechen. Wer allerdings ein moralisches Problem informiert und begründet, beschreibt und realistische Verbesserungsvorschläge macht, dem geht es wahrscheinlich wirklich um etwas. Wer dagegen unrealistische Forderungen aufstellt, in seiner Empörung maßlos übertreibt, oder Missstände anprangert, die gar nicht mehr erkennbar sind, dem geht es um Effekthascherei. Durch überhitzte Diskussionen kann Empörungserschöpfung entstehen, die dazu führt, dass sich Teile der Bevölkerung dem demokratischen Dialog entziehen. Symbolische und sprachliche Konflikte sind oft Triggerpunkte, die zu viel Aufmerksamkeit von den wirklichen Problemen abziehen. Darum schadet das Moralspektakel der Politik, der Wissenschaft, dem Kulturbetrieb und der Gesellschaft als ganzer. Hübl empfiehlt dagegen die nicht immer angenehme Vernunftmoral, die auch Entbehrungen oder Verhaltensänderung einfordern kann. Und die Diskussionen sind hier auch anstrengend, weil sie Zeit brauchen und empirische und gute Argumente brauchen.

Jürgen Czogalla

16.06.2024