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Philosophisch-ethische Rezensionen
(Erscheinungsdatum der rezensierten Bücher: 20. und 21. Jahrhundert)

François Jullien, Existierend Leben. Eine neue Ethik, 2022 Berlin

Hier ist zunächst einmal festzuhalten, dass Jullien unter Ethik kein Nachdenken über die Moral versteht, sondern er möchte Hinweise für ein geglücktes Leben geben. Nach seiner Meinung langweilen uns die üblichen Ansichten über das Leben nur, wie zum Beispiel das stoische "Vergiss nicht zu leben!". Oder der Ratschlag "Nutze das Leben!" und ähnliches, was er für Binsenweisheiten ansieht, die zwar wahr sind, uns aber kalt lassen. Man sieht schon, dass er solche Binsenweisheiten nicht liefern möchte. Er geht im Grund so vor, dass er, im Fahrwasser der phänomenologischen Schule, über die er gleichwohl hinausgehen will, herausarbeitet, was Leben und Existenz eigentlich sind und wie wir beides unmittelbar erfahren. Existenz begreift er dabei als das Geringere im Vergleich zum Sein, eine neu zu erkundende Ressource, die sich zwischen Sein und Leben setzt und sich der Unzulänglichkeit beider entgegenstellt. Existieren wird für ihn Gegenstand einer direkten Feststellung und konstruiert sich nicht im Denken, existieren bestätigt sich für ihn direkt in der Erfahrung, die wir nicht überschreiten können. Es lässt sich beschreiben, fügt sich aber keiner Deduktion des Denkens. Die Existenz ist für ihn eine absolute Position, dem Existierenden können wir begegnen, es ist da, kann aber nicht begriffen werden. Wir sollen uns als einzelne Subjekte mit seiner Gegenwart auseinandersetzen, da und am Leben zu sein und dennoch nicht mehr der Haltlosigkeit des Lebenden anheim zu fallen. Der Zustand der Existenz lässt für ihn das Absolute des Seins in das Hier und Jetzt absteigen. Während Sein zu abstrakt ist, als dass wir es erfahren könnten, so Jullien, und das Leben zu unmittelbar, zu sehr ins Organische versenkt, um wirklich ins Bewusstsein zu treten, können wir durchaus eine Empfindung haben zu existieren. Man nimmt sich plötzlich als da seiend, einfach im Hier und jetzt da wahr, ein Hier und Jetzt das nicht mehr nach Überschreitung ruft. Jede Vermittlung und Konstruktion des Denkens verschwindet in diesem Erlebnis plötzlich. Bei solchen Erlebnissen kommt es nicht zu einer Gewöhnung bei Wiederholung, meint Jullien. Es kann jederzeit auftreten, aber auch in seiner Heraufkunft strategisch gefördert werden. Es ist ein deintellektualisierter Zugang zum Existieren. Das Selbst erfährt sich hier als Vollständigkeit einer Identität und als Ipseität eines Subjektes, eines sich selbst, das sich auf vertrauteste Weise als in der Welt erfährt, aber, so der Autor, in einer Welt, die keine Einhegung mehr erleidet und aus dem Ich heraustritt und sich damit sich selbst offenbart. Hier verschwindet der Gegensatz von Mittelbarem und Unmittelbarem. Während diesem Zustand, so Jullien, genügt man wie Gott sich selbst. Dadurch wird eine Fruchtbarkeit für das Subjekt ausgelöst. Dies geschieht sozusagen an der Scharnierstelle zwischen der Abstraktion des Seins, die zur Stabilität des Ewigen und Absoluten erhebt und zu der nach Jullien das Denken als eine Berufung streben kann, aber nur indem es das Leben verleugnet; und der Einfügung in das Leben, die sich langweilig im Metabolismus hält zwischen Bedürfnis und Befriedigung. Weil ich existiere, kann ich mich, so Jullien, aus dieser Versandung befreien. Existieren als intrinsisch bestimmt, das auch von moralischen Vorschriften und Verhaltenskodizes entbindet, das auch nicht mehr an irgendein moralisches Fundament appelliert. Existierend leben genügt, um eine ethische Forderung zum Ausdruck zu bringen.

Der Autor möchte auf die entscheidende Wichtigkeit von Existenzerlebnissen, die wir alle ja hin und wieder erfahren, für ein gelungenes Leben hinweisen und uns gleichzeitig eine hilfreiche Interpretation von ihnen geben, (der Autor behauptet von sich, dass er einfach beschreibt unter Ausblendung aller möglichen konstruierenden Auslegungen). Das soll unser anschließendes Leben nach diesem Moment befruchten und uns aus der Versandung des immer Gleichen, sich Wiederholenden und immer schon längst Gesehenden herausholen. Dabei bleiben die Aussagen durchweg in der Einzelheit verhaftet. Der Andere ist lediglich als Ausgangspunkt möglicher Existenzerfahrungen relevant, die Gemeinschaft oder Werte werden nicht debattiert. Das bewusste Erleben, bzw. Streben nach dem Existenzkick ist im Grunde schon der Ganze Lebensratschlag des Autors. Ziemlich dünn, wie ich finde, vor allem auch bedenkt man den hyperintellektuellen Aufwand, den er in seinem Buch betreibt, um uns einen deintellektualisierten Zugang zum Existieren zu eröffnen. Der konventionellen Moral erteilt er eine Absage, vielmehr geht es ihm darum eine Lebensstrategie zu entwickeln, der es darum geht der Versandung zu entgehen und existierend zu leben.

Das Buch ist für Einsteiger in philosophische Lebensweisheit definitiv nicht geeignet. Der Autor zeigt sich als viel belesen, nimmt anspruchsvollen Bezug auf Positionen der abendländischen und auch der chinesischen Philosophie, die eines seiner Spezialgebiete ist. Wer sich gerne im phänomenologischen Bereich der Philosophie aufhält, wird wohl noch am besten mit seinen verschwurbelten, an sich selbst berauschenden Formulierungen, die nicht wirklich klar sind, zu Recht kommen. Mich hat das Buch nicht überzeugt.

Jürgen Czogalla, 03.09.2022

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