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Philosophisch-ethische Rezensionen
(Erscheinungsdatum der rezensierten Bücher: 20. und 21. Jahrhundert)

François Jullien über das Versanden des Lebens

Beim Versanden handelt es sich für Jullien nicht um eine Gefahr die unvermutet auftritt, sondern, wie er es nennt, um ein inneres Verhängnis. Das Leben versinkt hier in Unbewusstheit und Trägheit. Was hier versiegt ist für ihn das Vermögen zu existieren, die Fähigkeit, sich außerhalb dieses Versunkenseins zu stellen. Es ist ein schleichendes Einsinken in den Metabolismus des Vitalen, eingeschlossen in den schmalen Horizont des Fortlebens, ein Zurückziehen der Möglichkeiten, das sich vor uns verbirgt. Es ist das Gegenteil des Vermögens zu existieren. Der Sand besteht darin, dass jedes Ding seinen Platz gefunden hat und so unbemerkbar wird. Ich sehe, nehme aber nicht mehr wahr. Und zwar nicht nur jedes Ding, sondern auch jede Beschäftigung und jede Beziehung. Der Fehler liegt darin, dass alles an seinem Platz, alles in Position ist. Es verbreitet sich eine Angemessenheit, Normalität und Konformität, in der das Leben verkümmert. Dagegen ist existieren für den Autor ein Aufschwung, der außerhalb stellt, weil es keinen Platz für ihn gibt. Es bezeichnet jemanden der in seinen Möglichkeiten aufgereckt bleibt. Das Eingerichtete ist passiv und unterdrückt die Möglichkeit des Außerhalb, es nimmt dem Subjekt die Motivation. Als Beispiel nennt Jullien die lange Beziehung, in der man sich einrichtet und in die man sich in Konformität und Gewöhnung einmauert. Aus diesem Sich-Niederlassen gilt es sich durch List und Intelligenz zur retten. Dagegen gilt es in einem Aufschwung der Existenz sich aus dem Eingerichteten emporzuschwingen und sich das nie Dagewesene und Unendliche aufzuschließen. Die Existenz als das, was sich außerhalb des Wesens befördert, wie der Autor meint, was seine Bestimmtheit aufbricht und das am Platz sein und die eigene Begrenztheit überschreitet. Existieren zu leben ist für den Autor auf diesem Hintergrund keine Sache der Moral, sondern der Strategie. Der Ursprung der Moral ist für ihn unmoralisch und er verweist hier auf Nietzsche, der ihn offenbar überzeugt hat. Es gilt sich also anstelle von Moral mit einer Lebens-Strategie zu beschäftigen. Ziel ist der Sieg über die Trägheit, in der sich Existenz fesseln lässt. Wichtig ist das Resultat der Strategie, die Auflösung der Versandung.

Jürgen Czogalla, 03.09.2022