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Philosophisch-ethische Rezensionen
(Erscheinungsdatum der rezensierten Bücher: 20. und 21. Jahrhundert)

Adriano Mannino, Wen rette ich – und wenn ja, wie viele?, Stuttgart 2021

In seinem kleinen Essay geht der Autor der Frage nach, wie im Extremfall medizinische Ressourcen verteilt werden sollten, wenn z.B. die Beatmungsplätze oder das Personal auf der Intensivstation nicht mehr für alle dringend zu behandelnden Patienten ausreicht. Ist es dann gerechtfertigt die Patienten in vor- und nachrangige Gruppen nach bestimmten Kriterien einzuteilen oder vielleicht sogar durch ein Zufallsverfahren entscheiden zu lassen, wer z.B. das Beatmungsgerät verwenden kann, das nicht für alle ausreicht? Der Autor versteht seinen Essay selbst als einen Beitrag, wie man mit solchen Meinungsverschiedenheiten umgehen kann, bzw. nennt welches Verfahren er selbst empfehlen würde. Er nennt dann natürlich auch das sozusagen klassische Triage-Verfahren, das sich an der Heilungschance orientiert: 1. Höchste Priorität für alle, die ohne Behandlung fast sicher sterben würden, mit Behandlung aber zumindest eine gute, bzw. akzeptable Überlebenschance haben, 2. Zweitrangige Behandlung für alle, die auch ohne Behandlung eine relativ gute Überlebenschance hätten, die sich aber mit Behandlung noch deutlich verbessern lässt, 3. Zeitweilig nicht behandelt werden Patienten mit leichten Schäden, die auch ohne Behandlung eine gute Prognose haben, und 4. Letztrangig, bzw. gar nicht behandelt werden Patienten, die auch mit Behandlung höchstwahrscheinlich sterben. Ziel dieser Einteilung ist es, die Anzahl der geretteten Leben möglichst zu maximieren. Der Autor diskutiert dann weiter, ob hier nicht auch die Anzahl der geretteten Lebensjahre (Bevorzugung jüngerer vor älterer Patienten) oder das Kriterium der Systemrelevanz zur Anwendung kommen sollte (ein geretteter Arzt könnte zum Beispiel, wenn er bei der Behandlung bevorzugt wird, später womöglich hunderte von Patientenleben retten, wenn er wieder gesund ist). Es werden dann Begründungsverfahren vorgestellt, so wird z.B. vorgeschlagen, dass wenn man vor der Katastrophe, wenn man noch nicht weiß, ob man selbst betroffen sein wird, sich auf den Konsens einigen könnte im Notfall die Anzahl der geretteten Leben zu maximieren, sozusagen als Ergebnis eines Diskurses. Man könnte hier etwa auch hypothetische Diskurse mit Verschleierung annehmen (hypothetische Personen im Diskurs wissen zum Beispiel nichts von ihrem Alter oder Geschlecht oder anderen Merkmalen wie ihre gesellschaftlichen Position und kommen so zu gerechten Ergebnissen). Den Autor überzeugt dieser Vorschlag nicht, nämlich vor allem, weil er das verbleibende Lebensalter in die Triage-Entscheidung einbeziehen möchte. Er spricht sich für ein Losverfahren aus, bei der Patienten paarweise sozusagen gegeneinander abgeglichen werden. Weil er die verbleibende Lebenszeit aber mitberücksichtigen will, erhalten dann z.B. die jüngeren Patienten ein besser gewichtetes Los als die älteren Patienten. Warum sollte das Alter seiner Meinung nach berücksichtigt werden? Für ihn steht für einen jungen Menschen, der womöglich noch 50 Jahre lebt, mehr auf dem Spiel als für einen alten Menschen, der eben vielleicht auch nach der Gesundung nur noch ein paar Monate zu leben hat. Zusätzlich muss hier dann natürlich auch noch die Erfolgsprognose berücksichtigt werden. Er diskutiert dazu auch Gegenargumente, die er zu entkräften sucht. Es werden auch noch weitere Kriterien vorgeschlagen, die man vielleicht noch mitberücksichtigen könnte. Als weiteren Punkt wird diskutiert, ob eine Ex-post-Triage gerechtfertigt werden kann, das bedeutet das aktive Beenden einer Behandlung um etwa so einer Person, die jünger oder mehr Erfolgsaussichten hat an die so freigemachte Ressource sozusagen anschließen zu können. Der Autor diskutiert das und urteilt, dass auch eine Ex-post-Triage unter bestimmten Umständen gerechtfertigt werden kann. Schließlich untersucht er noch Fragen einer Makro-Triage (im Katastrophenfall stehen auch auf gesellschaftlicher Makroebene vitale Ressourcen nur begrenzt zur Verfügung).

Das Buch diskutiert Handlungsoptionen in einer Extremsituation, deren Eintreten natürlich unbedingt zu vermeiden ist. Als Einleitung in das Thema ist es meiner Meinung nach weniger geeignet, denn dazu müsste sich der Autor meinem Empfinden nach selbst etwas zurücknehmen und die Optionen neutraler darstellen. Er vertritt hier aber dezidiert und engagiert seinen eigenen Ansatz, den er aber nicht einfach platt vorstellt, sondern in Auseinandersetzung mit anderen aktuellen Positionen, wie etwa auch dem deutschen Ethikrat, von denen er sich absetzt. Ich finde das alles tatsächlich sehr interessant, allerdings hat mich der Ansatz von Mannino nicht überzeugt. Das Einbeziehung des Alters in die Beurteilung finde ich diskriminierend, auch wenn der Autor meint, das aufgrund seiner rationalen Begründung bestreiten zu können. Ebenso wenn er bestreitet, dass er dadurch das Leben älterer Menschen für weniger Wert hält als von jüngeren – tatsächlich gibt er letzteren im Zweifelsfalle immer einen Bonus mit auf den Weg. Ich halte es da tatsächlich mit der Position des Ethikrates, denn meiner Meinung nach ist der Wert der Gleichbehandlung sei es z.B. bei Geschlechtsunterschieden, Alter oder Behinderung oder religiöser Ansichten etc. so fundamental für unsere freiheitlich-demokratische Ordnung, dass er auch in der Extremsituation der Triage nicht angetastet werden sollte. Jedes Leben sollte den gleichen Schutz genießen, so meine Meinung. Auch die Art und Weise wie er eine Ex-post-Triage befürwortet, lehne ich aus den gleiche Gründen ab, da er hier wieder unter anderem mit der erwarteten Lebenszeit argumentiert. Mich haben da schon viel eher die Gegenargumente überzeugt, die er selbst nennt und zu widerlegen sucht. Das alles ändert aber nichts daran, dass ich das Buch von Mannino gerne und mit Interesse gelesen habe. Es ist jetzt aber meiner Ansicht nach auch kein ganz super schwierig zu lesender Essay, aber doch schon mit argumentativen Tiefgang.

Jürgen Czogalla, 22.03.2021

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