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Philosophisch-ethische Rezensionen
(Erscheinungsdatum der rezensierten Bücher: 20. und 21. Jahrhundert)

Christoph Menke, Theorie der Befreiung, Berlin 2022

Menke meint, dass wir in einer Zeit gescheiterter Befreiungen leben. Denn für ihn haben sich alle Befreiungsversuche der Moderne früher oder später in ihr Gegenteil verkehrt und neue Zwänge, Abhängigkeiten und Knechtschaft hervorgebracht. Damit meint er nicht nur politische, ökonomische, rechtliche und ethische, sondern auch kulturelle und künstlerische Befreiungsversuche, die allesamt neue Gestalten und Strategien von Herrschaft hervorgebracht haben. Er hegt außerdem die Überzeugung, dass die Befreiung immer schon der Rechtfertigung von Herrschaft diente. Daraus zieht er die Schlussfolgerung, dass die Befreiung nicht mehr ein Versprechen oder eine Hoffnung sein kann. Um erneute Befreiungsversuche zu starten, müssen wir, so meint er, auf vergangene, gescheiterte Befreiungsversuche blicken, um aus deren Fehlern zu lernen. Dabei kritisiert er das griechische, westliche Konzept der Befreiung als Subjektivierung. Danach befreien sich die Knechte von der Herrschaft, indem sie sich bewusst werden, handeln zu können. Das Individuum befreit sich, indem es sich seiner Befähigungen bewusst wird. Wird es sich dessen bewusst, dass es in Wahrheit handeln, sprechen, wollen kann, dann hört es auf, ein Knecht zu sein. Diese Befreiung erfolgt aber nach Menke nur um den Preis einer neuen Knechtschaft; der Knechtschaft der Gewohnheit, der Identität, des Zwangs zur leeren Wiederholung, zur Knechtschaft des Schicksals. Darum kann für ihn wahre Befreiung nicht als Bewusstsein von einer Gewohnheit und damit als Prozess der Sozialisierung definiert werden, sondern muss zur Befreiung von der sozial-subjektiven Identität werden. Sie muss, so meint er, zur Befreiung des Selbst zur Nichtidentität werden, was er als radikale Befreiung bezeichnet. In dieser Hinsicht identifiziert er 2 mögliche Modelle: Die Befreiung zur Selbstständigkeit, das ist das ökonomische Modell, das er mehr oder weniger in den Ideen eines radikalen Neoliberalismus entdeckt, oder die Befreiung zum Gehorsam, das ist das religiöse Modell. Das ökonomische Modell verdeutlicht er an dem Hauptprotagonisten der Serie "Breaking Bad": Hier lebt das Selbst allein um seiner Erhaltung und Steigerung willen. Das religiöse Modell verdeutlicht er am biblischen Mose: das Selbst, das alleine in Bezug auf einen transzendenten Höchsten lebt. Menke meint, dass diese beiden Extreme auf eine zugleich soziale, geistige, praktische und theoretische Spaltung der modernen Lebensformen hinweisen. Es sind für ihn sozusagen die Spitzen zweier Hauptströmungen unserer Zeit, die sich gegenseitig bekämpfen. Trotzdem haben sie nach Menke auch Gemeinsamkeiten: Die Befreiung bricht bei beiden mit der Gewohnheit und sie liegt daher für ihn jenseits des Sozialen. Weder der ökonomische noch der religiöse Freie sind für ihn soziale Teilnehmer, sondern sie stehen außerhalb der Gesellschaft. Die Stimme der Verantwortung für das soziale Miteinander und für seine Moral und Institutionen sind ihnen verstummt. Sie fühlen sich verpflichtet die sittlichen Verantwortlichkeiten als bloße Konventionen anzusehen und sie zu durchbrechen. Alles ist wieder erlaubt. Das religiöse Selbst durchbricht das sittliche Gesetz aus Liebe zu Gott und das ökonomische Selbst um seiner Selbst willen, also aus Egoismus und Eigensinn. Für beide führt nach Menke die Befreiung aus der Sittlichkeit heraus. Das ökonomische Selbst schämt sich seiner Abhängigkeit und entschließt sich zur Selbstständigkeit, das religiöse Selbst schämt sich seiner Selbst, es erkennt, dass sein Vermögen und daher es selbst nichts sind und es entschließt sich so zum Gehorsam unter das göttliche Gebot. Das eine Selbst hört sozusagen die Stimme der Natur und das andere die Stimme der Transzendenz. Diese beiden Konzepte scheitern nach Menke. Im Fall der ökonomische Befreiung sind die Vermögen, um die sich das Individuum sorgt, Werte die vom Urteil anderer abhängen. Und damit kehrt für Menke die Abhängigkeit zurück. Das Individuum, dass sein Individualität wiederherstellen wollte wird zu einer unendlichen Anstrengung der Selbstbehauptung gezwungen, seine Existenz ist seriell. Im Fall der religiösen Befreiung wird das transzendente Gebot, dass das Selbst aus den sozialen Gesetzen befreit hat, wieder zum Gesetz. Das nötigt nach Menke das Selbst dazu, seinen Auszug aus dem Gesetz nicht nur zu wiederholen, sondern ständig zu radikalisieren. Die religiöse Existenz wird mystisch. Die Serialisierung der ökonomischen Existenz, in der sich die Einheit des Individuums auflöst, wird zu einer lustvollen Erfahrung. Die mystische Erfahrung der religiösen Existenz durchbricht das Gesetz der Gebotserinnerung und führt zurück zu der Faszination, mit der Mose seine Befreiung begonnen hat. Das ökonomische Modell führt in einen reduktionistischen Absolutismus, das religiöse Modell in einen normativen Absolutismus, der sich in einen leeren Kreislauf der Gesetzesdurchbrechung und Gesetzeswiederherstellung verstrickt. Die Befreiungsbewegung der ökonomischen Existenz hat nach Menke keine Zukunft, denn sie gerät in eine Sackgasse, aus der sie nicht herausfinden kann. Die Wahrheit, die sie hervorbringt, kann nämlich nach Menke nur von außen formuliert und bewahrt werden und zwar im Bruch mit der ökonomischen Befreiungsbewegung in der religiösen Befreiungsbewegung. In der religiösen Befreiungsbewegung kann die Nichtigkeitsempfindung der eigenen Existenz über sich hinausgehen und in eins die Erfahrung der ökonomische Existenz, die an deren Ende steht und die sie selbst nicht verstehen kann, einholen. Am Anfang beider Befreiungsbewegungen steht das Erleiden der Erfahrung der Faszination. Dazu gibt dann der Autor noch Hinweise, was wir aus dem Scheitern der beiden Bewegungen für neue Befreiungsversuche lernen können.

Der Autor stellt die radikale Befreiung recht unbegründet als einen sehr hohen Wert, bzw. etwas dar, um was wir uns bemühen sollten. Radikal muss aber eine Befreiung meiner Meinung nach nur sein, wenn die Verhältnisse auch radikal drückend sind. Und auch dann tut man gut daran, dass man nicht asozial wird und bei null anfängt, denn dann werden nur die Fehler der Vergangenheit wiederholt. Auch macht eine Befreiung meiner Meinung nach keinen Sinn, wenn man nicht in irgendeiner Weise eine Vorstellung von einem guten Leben ausgebildet hat. Menke berücksichtigt hier weder angemessen die Bedeutung von Beziehungen (Beziehungen zu haben allein erscheint bei ihm fast schon als eine Art von Unfreiheit) und von Werten (von denen soll man sich im Akt der Befreiung ja nach Menke geradezu frei machen). Und eine Gottesbeziehung, die einen nicht zu einem gesunden Selbstwertgefühl führt, scheint mir auch nicht wirklich eine christliche zu sein. Desweiteren erscheint es mir als veritabler Irrglaube, dass man aus einem Erlebnis der Faszination alles neu einschätzen sollte. Wir nehmen immer unsere alten Eindrücke und Wertungen in eine Neueinschätzung mit. Amnesie ist für mich kein philosophisches Ideal. Auch das eine Befreiung zwingend nur auf einem Faszinationserlebnis aufruhen sollte, erscheint mir nicht plausibel. Sondern vieles wird einem einfach dadurch klar, dass man über eine Sache mal ein bisschen nachdenkt. Empirische Daten, die seine Theorie stützen könnten, führt Menke übrigens nicht auf. Das ist für so ein ambitioniertes Werk nicht zureichend. Also wie man sieht, stimme ich mit vielen Prämissen des Buches gar nicht überein, bzw. hat mich der Autor nicht wirklich überzeugen können. Trotzdem ist das Buch nicht frei von interessanten Einsichten.

Jürgen Czogalla, 05.02.2023

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