![]()  | 
                Philosophisch-ethische Rezensionen
             | 
  | 
Jean-Claude Michéa, Das Reich des kleineren Übels. Über die liberale Gesellschaft, Berlin 2014Das Buch ist eine Sammlung von sieben kleinen Essays zum Thema Liberalismus. Der Autor geht
         darin sehr kritisch den Fragen nach der Entstehung des Liberalismus, seinen Prinzipien und seinem Wesen und schließlich nach seiner
         Zielrichtung und zukünftigen Entwicklung nach. Er sieht den Liberalismus als die moderne Ideologie par excellence an, als eine Idee,
         die auf das 17. Jahrhundert zurückgeht und der neben dem beginnenden Auftrumpfen der empirischen Wissenschaften besonders noch die
         traumatischen Erfahrungen ideologisch geführter, verheerender (Bürger-)Kriege zugrunde liegt. Er sieht hier ein pessimistisches
         Menschenbild wirken, das versucht die Leidenschaften, das Streben nach einem unbedingt Gutem, nach der allein gültigen Moral, nach
         unantastbaren Werten, die immer wieder zu oft blutigen Fehden und Fanatismen führten, die Lehre von einem gesunden Egoismus
         entgegenzustellen. Der Mensch soll sich nicht mehr irgendwelchen hehren Werten aufopfern, sondern sein Hauptaugenmerk darauf legen,
         seine Lebensumstände zu verbessern. Damit das gelingt, gilt es sich der Dynamik des Marktes anzuvertrauen und mittels eines gerechten
         Rechtssystems eine allgemeine Atmosphäre der Harmonie - bei gegenseitigen rivalisierenden Freiheiten - und des allseitigen Ausgleichs
         zu schaffen. Ein Appell an die Tugendhaftigkeit des Subjektes ist dazu eigentlich nicht mehr länger erforderlich. Im Gegenteil, nach
         Meinung des Autors muss sich der Liberalismus von seinem Wesen her den Rückgriff auf bestimmte metaphysische Konzeptionen, wie zum
         Beispiel der Idee der menschlichen Würde oder so etwas wie einem bestimmten, verbreiteten Sinn für Anstand versagen. Er löst stattdessen
         gesellschaftliche Herausforderungen innerhalb eines selbst auferlegten technischen Rahmens, was nach Meinung des Autors letztlich auf
         massive Regulierungen hinauslaufen muss. Es geht ihm also, um es auf den Punkt des Autors zu bringen, nicht um eine anständige, sondern
         um eine gerechte Gesellschaft. Dahinter stehe der Glaube, dass wenn sich eine Gesellschaft in die Hände von Angebot und Nachfrage
         begibt, von ganz alleine, rein mechanisch, eine solidarische und friedliche Gesellschaft entwickelt. Dabei werde das wirtschaftliche
         Wachstum als des Geschichtsrätsels Lösung angepriesen, denn es schaffe Arbeitsplätze und führe zuletzt auch zu einem Anstieg der Löhne.
         Für den Autor läuft zuletzt der Glaube, eine harmonische, erfolgreiche menschliche Gesellschaft gründen zu können, die sich eben nicht
         mehr auf gemeinsame moralische und kulturelle Werte stützt - bedenkt man die Forschungsergebnisse der Anthropologie - letztlich auf eine
         Abschaffung des gegenwärtigen Menschen hinaus, der dann durch so etwas wie einen neuen Menschen, eine Menschenmaschine ersetzt wird. Er
         trägt sozusagen dann den endgültigen Sieg davon, wenn alle emotionalen Bindungen zerstört sind und Millionen Individuen vereinigt sind,
         ohne sich zu mögen, eine durch und durch vereinheitlichte Welt, in der der Andere nicht mehr als Partner in einer einmaligen Begegnung,
         sondern als Konsumobjekt und Opfer von Instrumentalisierungen erscheint. 
         Jean-Claude Michéa ist mit seinem kleinen Büchlein meiner Meinung nach ein ganz großer Wurf gelungen: Seine scharfsinnigen Analysen und brillanten Formulierungen bedeuteten für mich einen echten Hochgenuss, der mir in dieser Form doch selten begegnet. Es macht einfach Spaß dem Autor auf seinen Gedankengängen zu folgen und den eigenen Verstand an den auch literarisch auf hohem Niveau stehenden Thesen zu schärfen, wobei es mir durchaus auch ein paar kalte Schauer bereitet hat, die möglichen Folgen eines naiven, reinen Liberalismusglaubens und -lebens vorgestellt zu bekommen: Nämlich letztlich die Entmenschlichung unserer Gesellschaft. Vorschläge, um hier das Ganze zum Besseren zu wenden, macht der Autor allerdings wenig und oft nur Mal ab und an in Nebensätzen. Ein Punkt von ihm ist hier aber sicher der Rat, einfach menschlich zu bleiben, ein gesundes Wertebewusstsein zu entwickeln und dann auch in das alltägliche Leben zu integrieren. Ein wirklich großartiges Buch! Jürgen Czogalla, 13.12.2014  
    |