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Philosophisch-ethische Rezensionen
(Erscheinungsdatum der rezensierten Bücher: 20. und 21. Jahrhundert)

Iris Murdoch, Die Souveränität des Guten, Berlin 2023

Die Erstausgabe des Buches - in englischer Sprache - war schon 1970, die erstmalige deutsche Übersetzung folgt einer Ausgabe von 2014 mit einem Vorwort von Mary Midgley. Hinzugekommen ist noch ein instruktives Nachwort von Eva-Maria Düringer. Das Buch besteht aus drei Aufsätzen, zum einen "Die Idee der Vollkommenheit", dann "Über ‚Gott' und ‚Gut'" und schließlich noch "Über die Souveränität des Guten über andere Begriffe".

Die Autorin kritisiert das Idealbild eines Menschen als jemand der seine Gründe frei wählt und nach Begutachten von Tatsachen, die allen offenstehen, handelt und so seine Freiheit ausübt. Es ist das Bild eines äußerst bewussten und selbstständigen Wesens, das vielen Moralphilosophen hier vorschwebt. Murdoch findet diese Vorstellung, wie unser Entscheiden geartet sein soll, nicht realistisch. Sie meint es wird unserer Erfahrung nicht gerecht. Sie setzt dagegen, dass man Entscheidungen nur treffen kann, die man im moralischen Sinn sehen kann, als Ergebnis von moralischer Vorstellung und Anstrengung. Darum ist für sie in kritischen Momenten der Entscheidung bereits das Wesentliche erledigt. Dabei sieht sie die Ausübung unserer Freiheit als kleinteilige und schrittweise Angelegenheit und kein pompöses Herumspringen in wichtigen Momenten. Für sie ist das moralische Leben etwas, das kontinuierlich im Gange ist und nicht etwas, das zwischen Momenten der moralischen Entscheidung ausgeschaltet ist. Sie meint, moralischer Erfolg und moralische Veränderung sind langsam, wir können uns nicht von jetzt auf gleich ändern, weil wir durch Aufmerksamkeit erst einmal lernen müssen, die Dinge anders, nämlich realistisch zu betrachten, so wie sie sind unter Ausschluss der Verblendungen des Selbst. Das Ideal ist eine geduldige, liebende Zugewandtheit, gerichtet auf Personen, Dinge, Situationen, in der der Wille nicht einfach eine ungehemmte Bewegung darstellt, sondern handelt im Sinne eines Gehorsams gegenüber diesem Sehen. Wir sollen versuchen gerecht zu sein, Vorurteile ablegen, Einbildungen kontrollieren. Für sie ist der Mensch keine Kombination aus unpersönlichem und rationalem Willen, sondern ein geeintes Wesen, das etwas Kontrolle über die Richtung und den Fokus seines Sehens hat. Es ist die Idee der Wirklichkeit, die sich dem geduldigen Blick der Liebe offenbart und die zu moralischem Handeln führt. Güte und Schönheit haben darum für sie auch weitgehend die gleiche Struktur, ästhetische Situationen sind Fälle von Moral. Murdoch meint, dass das Erfassen von Gutem das Erfassen des Individuellen und der Wirklichkeit ist, und Anteil hat am schwer fassbaren Charakter dieser Wirklichkeit. Insgesamt ist für sie im moralischen Leben der Feind das dicke, unerbittliche Ego und Moralphilosophie sollte dementsprechend der Ort sein, an dem dieses Ego bezwungen werden kann und entsprechende Techniken dazu bereitgestellt werden. Die Vorstellung des Guten als eines transzendenten und magnetischen Zentrums als das realistischste und am wenigsten verdorbene Bild, sollten wir uns beim Nachdenken über das moralische Leben nutzbar machen. Dabei ist für Murdoch die Kunst für das individuelle Seelenheil wichtiger als Philosophie, am wichtigsten ist für sie hier gute Literatur. Ihr letzter Aufsatz ist dann über weite Strecken eine Auslegung des platonischen Höhlengleichnisses. Sie geht davon aus, dass der Mensch von Natur aus selbstsüchtig ist, was schlecht ist, und dass das menschliche Leben keine darüberhinausgehende Pointe oder Telos hat. Sie ist also keine christliche Philosophin und bietet, wie es Eva-Maria Düringer im Nachwort so schön auf den Punkt bringt, eine Art von säkularisierter Form der Philosophie von Simone Weil. Heidegger, der Neukantianismus und der Existentialismus sind für sie luziferische philosophische Strömungen.

Das Büchlein, als ein Klassiker der modernen Philosophie vom Verlag beworben, war eine echte Herausforderung für mich, weil so unkonventionell und gegen den Strich der Moralphilosophie, wie sie vorherrschend ist. Wenn Sie das Sehen des Guten als Quelle des moralischen Lebens bezeichnet, kann man das natürlich auf die gleiche Art kritisieren, wie man etwa Platons Ideenlehre kritisieren kann. Und zu behaupten, dass die Wirklichkeit ein Sollen implizieren soll, ist ja auch nicht gerade eine unproblematische Sichtweise. Sie versucht solche Gegenargumente ein bisschen en passant zu entkräften, allerdings für mich nicht wirklich überzeugend. Dann hätte sie auch wohl mehr dazu schreiben müssen als 3 nicht sehr umfangreiche Aufsätze. Also sie hat mich nicht wirklich für ihren eigenen Ansatz begeistern können, bietet aber natürlich durchaus interessante Überlegungen. Aufmerksam zu sein bei Entscheidungen mit Dingen, Personen und Situationen und auch dabei von sich selbst etwas Abstand zu nehmen ist sicher ein guter Rat, wenn auch nicht wirklich originell. Ihre totale negative Beurteilung des Selbst teile ich übrigens auch nicht.

Jürgen Czogalla, 26.08.2023

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