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Philosophisch-ethische Rezensionen
(Erscheinungsdatum der rezensierten Bücher: 20. und 21. Jahrhundert)

Corine Pelluchon, Das Zeitalter des Lebendigen. Eine neue Philosophie der Aufklärung, Darmstadt 2021

Die Autorin sieht ein Zeitalter des Lebendigen heraufkommen, dass sie mit ihrer Philosophie mit auf erbauen möchte. Es ist kein Zeitalter des Irrationalismus, Fanatismus oder einer Hegemonialmacht, die sich ausbreiten möchte, sondern ein Zeitalter einer neuen Aufklärung, die aus den Irrwegen der alten Aufklärung gelernt hat. Sie verknüpft ökologischen Wandel, soziale Gerechtigkeit und Tierwohl mit einer individuellen und gesellschaftlichen Emanzipationsbewegung, gestützt auf Reflexionen, so Pelluchon, die unsere Körperlichkeit und Endlichkeit ernst nehmen. Sie ermächtigt uns dazu unsere Fähigkeiten und Technologien vernünftig zu nutzen und zwar in einer Demokratie. Diese neue Art des Denkens, die bereits im Anbruch ist, vermag Europa wieder einen politischen Inhalt zu geben und eine Inspiration für andere Länder zu werden, ohne jegliche Machtphantasien, davon ist Pelluchon überzeugt. Das Ganze als Ausdruck des durch Reflexion erneuerten und gereinigten Rationalismus im Zeitalter des Lebendigen. Er zeugt von einer Versöhnung der Zivilisation mit der Natur und der Rationalität mit der Sensibilität und unterscheidet sich radikal von einem instrumentellen Rationalismus der zwingend in die Barbarei führt. Eine gesunde Nutzung der Vernunft wird durch Wertschätzung erreicht, durch eine Erweiterung des Subjekts, dass sich seiner Zugehörigkeit zur gemeinsamen Welt bewusst wird und so den Relativismus überwindet. Es setzt dabei die ursprünglichen Ziele der Aufklärung in gereinigter Form fort, das in individueller und gesellschaftlicher Emanzipation besteht. Wir erfahren zurzeit, so Pelluchon, die Wirkungen einer doppelt amputierten Vernunft. Zunächst, so meint sie, wurde die Vernunft von der Natur abgeschnitten. Das Abendland verstand den Zivilisationsprozess als Befreiung von der Natur und als deren Dienstbarmachung, was zu einem Prozess der Ausbeutung anderer (Mensch, Tier Natur), sowie zur Unterdrückung des Gefühlslebens und der Instinkte führte. In einem zweiten Schritt verlor sie allmählichen jeglichen Bezug zu einem Universellen, nachdem die Moderne das Individuelle zur Norm des Wahren erhoben hatte. Aus Wahrheit wurde Nützlichkeit und die Vernunft suchte nicht mehr zwischen wahr und unwahr, gerecht und ungerecht zu unterscheiden, sondern verkam zur Berechnung um eine Industrialisierung zu betreiben und Lebewesen zu manipulieren. Die erste Amputation geht für sie auf die abendländische Zivilisation zurück, die zweite auf die Moderne, die von einem Beschleunigungsprozess geprägt ist der sich der Kontrolle entzieht und mit der völligen Vernichtung enden kann. Die Aufklärung des Lebendigen stützt sich auf eine Phänomenologie unseres Lebens auf der Erde, die unsere Körperlichkeit und unsere Abhängigkeit von dem Ökosystem und anderen Lebewesen, menschlichen und nichtmenschlichen, ins Zentrum setzt. Dadurch wir der alte Rationalismus vollkommen umgestaltet und zugleich wird die Einheit der Welt und die Diversität der Lebewesen und Kulturen unterstrichen. Denn, so Pelluchon, die Trennung von Zivilisation und Natur ist eine Amputation des Selbst, die Entmenschlichung erzeugt. Sie möchte zu einer Versöhnung des Subjekts mit seiner Körperlichkeit und Endlichkeit beitragen. Überwunden werden soll das alte Herrschaftsschema, dass in der Ablehnung unserer gemeinsamen Verletzlichkeit und Alterität und in der Gewalt gegen das Lebendige wurzelt, für sie verkörpert im Kommunismus, Nationalismus, Kapitalismus und Transhumanismus. Dieses Herrschaftsschema verwandelt die Welt nach und nach in eine Wüste. Dagegen setzt sie das Wertschätzungsschema, das für sie absolut unvereinbar mit dem Herrschaftsschema ist. Der Schemawechsel ist ein radikaler, langsamer Prozess, der für sie bereits begonnen hat und der sich über das gewandelte Individuum und einzelne Organisationen und Vereine bereits bemerkbar macht. Es gilt unsere Einstellung zu verändern, die mit dem Drang einhergeht andere zu vernichten um selbst zu existieren und das ein Weltverhältnis einschließt, das sich in Manipulation und Verdinglichung des Lebendigen erschöpft. Die neue Art des Wertschätzung muss die Psyche des Menschen durchdringen, damit sich etwas ändert, was dann zu erheblichen Auswirkungen auf Umwelt, Gesellschaft, Wirtschaft und Politik führt. Denn die Wertschätzung führt dazu, davon ist Pelluchon überzeugt, dass die Subjekte wieder ihre Autonomie zurückerlangen und dass sie nicht mehr sich selbst entfremdet sind. Sie erreicht es nicht mit Waffengewalt und Blutvergießen, sondern durch einen Wechsel im Ethos, die auch in einer Transformation der archaischen Schichten der Psyche besteht.

Großes Lob von mir für Pelluchon, denn eins ist klar: Ihre Richtung stimmt. Es gefällt, dass sie am Projekt der Aufklärung festhält und doch auch die Irrwege der Vernunft aufweist. Eine neue, selbstkorrigiert Aufklärung ist möglich die zu den grundlegenden alten Idealen einer Emanzipation des Selbst und der Gesellschaft nicht im Widerspruch steht, sondern sie erreichen will, mit einem neuen Ethos als Grundlage. Diese Veränderung ist tatsächlich schon überall in Europa spürbar, sodass man nicht behaupten kann, dass die Gedanken von Pelluchon sozusagen aus dem Nichts erwachsen sind. Sie kommentiert begleitend philosophisch diese ökologische Bewegung und verleiht ihr so zweifellos mehr Schlagkraft. Dabei zeigt sie sich in relevanter philosophischer Literatur immer wieder als sehr bewandert. Ein Buch, das ich gerne gelesen habe, trotz der etlichen Redundanzen die es enthält. Und eine wirklich leichte Lektüre ist es auch nicht gerade, aber voll von interessanten Einsichten, wenn man denn wirklich bis zur letzten Seite durchhält. So sieht gelungene, zeitgenössische und visionäre Philosophie für mich aus.

Jürgen Czogalla, 20.02.2022

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