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Philosophisch-ethische Rezensionen
(Erscheinungsdatum der rezensierten Bücher: 20. und 21. Jahrhundert)

Frauke Rostalski, Die vulnerable Gesellschaft. Die neue Verletzlichkeit als Herausforderung der Freiheit, München 2024

Rostalski konstatiert eine geradezu inflationäre Verwendung des Begriffs „Vulnerabilität“. Eine solche Vulnerabilität wird in unterschiedlichen Bereichen festgestellt: Etwa bei Sexarbeiterinnen, Opfern von sexualisierter Gewalt, bei Geflüchteten, Transgendern, armen Länder, digitalen Gesellschaften oder kritischer Infrastruktur. Der Begriff, so stellt sie fest, wird immer dann herangezogen, wenn ein besonders wichtiges Anliegen vorgebracht wird. Das Kennzeichnen von Menschen als vulnerabel dient dabei immer wieder dazu, deren Anliegen und Interessen als besonders bedeutsam festzumachen und die Gesellschaft darauf aufmerksam zu machen. Dabei, so macht sie deutlich, zeitigen Einsichten in individuelle wie kollektive Verwundbarkeiten gegenwärtig besonders weitreichende Konsequenzen. So ist Vulnerabilität inzwischen auch ein wichtiges rechtliches Thema geworden. Denn: Umso wichtiger der Schutz Vulnerabler für die Gesellschaft wird, desto näher liegt der Einsatz des Rechts. Dient allerdings Recht dazu, vulnerable Personen zu schützen, gerät, so Rostalski, dieses Schutzziel in ein Spannungsverhältnis zur individuellen Freiheit. Je mehr sich die Gesellschaft als verletzlich begreift, desto mehr wird sie dazu neigen, sich vor Risiken durch das Recht zu schützen. Aber, so stellt sie fest: Immer dann, wenn der Staat mit seinen Mitteln dafür sorgt, Vulnerable zu schützen, geht Freiheit auf allen Seiten verloren, und das nicht bloß bei denen, die zu den Stärkeren gehören. Alle verlieren Freiheit, wenn der Staat eingreift, auch die Vulnerablen. Dabei ist festzustellen, dass Vulnerabilitäten bereits auf eine Vielzahl von Gesetzen Einfluss genommen haben und zwar nicht nur betreffend die Corona-Pandemie oder bei Fragen sozialer Diskriminierung. Es geht aber der Autorin in ihrem Buch nicht darum, diese Entwicklung zu kritisieren (sie hat nach Meinung der Autorin nämlich nicht bloß negative Auswirkungen), sondern sie deutlich zu machen. Daraus ergibt sich, dass unsere Gesellschaft immer vulnerabler wird und dies Ausdruck in einer Vielzahl von Gesetzesänderungen findet. Dadurch werden Freiheitsräume neu vermessen und diese Prozesse sollten, so meint sie, sich in unser aller vollem Bewusstsein vollziehen. Die einzige Vulnerabilität, die sie ganz explizit negativ bewertet, ist die sich ausbreitende Diskursvulnerabilität, denn diese untergräbt ihrer Meinung nach massiv unsere demokratische Ordnung. Neuere gesetzliche Modifizierung bei uns, die von Vulnerabilitätsforderungen herrühren, referiert sie: Die neue Verletzlichkeit der Ehre (z.B. Hassrede und Shitstorms), Ausdehnung des Strafrechts zum Schutz der Selbstbestimmung (z.B. auch das Recht seine Sexualität positiv zu bestimmen), Mikroagression (z.B. wenn eine Person eine andere nicht mit dem richtigen Pronomen anspricht oder andere kurze und alltägliche Bemerkungen und Verhaltensweisen, die Beleidigungen im Hinblick auf Personen oder Gruppen enthalten, z.B. betreffend Religion, sexuelle Orientierung und sozialem Geschlecht), die rechtliche Regulierung der Suizidassistenz, Selbstbestimmungsrecht der schwangeren Frau und Pandemiepolitik.

Die Schwierigkeit der vulnerablen Argumentation liegt der Meinung der Autorin nach darin, dass sie potentiell ins Unendliche weist: Wenn zum Beispiel das sexuelle Selbstbestimmungsrecht durch jede sexualbezogene Handlung, die der andere nicht wünscht, verletzt wird, ist der mögliche Bereich staatlicher Regulierung grenzenlos. Liegt eine strafbare Handlung etwa schon bei einem höflichen Ansprechen anderer vor oder womöglich auch bereits bei einem bewundernden Blick? Dort, wo bisher der Einzelne noch dazu berufen war, dem anderen selbstbewusst und durchaus auch mal mutig Grenzen aufzuweisen, kommt jetzt immer öfter der Staat mit dem Recht zum Einsatz.

Das Buch weist auf eine Tendenz in unserer Gesellschaft hin, die unser aller Freiheitsräume zu beeinträchtigen geeignet ist. Wir sollten also auf vulnerable Argumente nicht blindlings aufspringen, sondern auch immer nach deren Relevanz, Plausibilität und Wichtigkeit fragen. Denn eines macht das Buch deutlich: Eine Übervulnerabilität verträgt unsere demokratische Ordnung nicht, sondern diese verlangt immer auch eine persönliche, selbstbewusste, offene und auch oft unangenehme Auseinandersetzung mit dem Anderen, der sich jeder stellen muss, der hier leben möchte. Eine Übergesetzlichung kann also unsere Demokratie unterminieren.

Jürgen Czogalla, 14.07.2024

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