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Philosophisch-ethische Rezensionen
(Erscheinungsdatum der rezensierten Bücher: 20. und 21. Jahrhundert)

Frauke Rostalski, Warum Diskursvulnerabilität eine Gefahr für unsere Demokratie ist

Unter Diskursvulnerabilität versteht Rostalski eine besondere Verletzlichkeit in der gegenseitigen Kommunikation. Die Kommunikation wird hier selbst als Bereich ausgemacht, in dem zum Schutz verletzlicher Personen Korrekturen vorgenommen werden müssen, also Regeln darüber, was, wie und von vom gesagt werden darf, um dabei das Gegenüber nicht zu verletzen. Diskursvulnerabilität ist nach Meinung von Rostalski Ursache für die Verrohung des gesellschaftlichen Diskurses und des schlechten Diskursklimas überhaupt, denn: Verletzlichkeiten rufen Abwehrreaktionen hervor. Umso höher das eigene Interesse daran gewichtet wird, im Diskurs nicht verletzt zu werden, desto mehr wird man sich abwehrend gegenüber potentiellen Verletzungen verhalten. Das Resultat ist, dass immer weniger offen miteinander gesprochen wird, was sich wiederum auf unser demokratisches Gemeinwesen auswirkt, dessen Herzstück der freie öffentliche Diskurs ist. Dabei kritisiert Rostalski nicht etwa Auffassungen, die im Diskurs geäußert werden, sondern das „wie“ des Diskurses. Beispiele: Wer etwa gesellschaftlichen Diskriminierungen aufgrund seiner Geschlechtsidentität als Transperson erfahren hat, für den kann eine öffentliche Debatte über das biologische Geschlecht verletzend sein. Der Diskurs kann dann als persönlicher Angriff gewertet werden, der verletzt. Es kann ebenfalls verletzen, wenn im Diskurs bestimmte Personen zu Wort kommen. Weil Positionen einer solchen Person einmal verletzt haben, erweist sich jede erneute öffentliche Stellungnahme des Betreffenden als Wiederholung oder Vertiefung des bereits einmal erfolgten „Angriffs“. Wenn die Sensibilität für Debatten wächst, die Menschen verletzen können, liege es, so Rostalski, nahe, spezifische Vorstellung davon zu entwickeln und durchzusetzen, wie derartige Gespräche abzulaufen haben, bzw. wann sie etwa zu unterbinden sind. Mit dem Auftreten von Diskursvulnerabilität, so Rostalski, geht das Risiko einher, individuelle Freiheit über die Gebühr einzuschränken. Neben der möglichen Einschränkung der Redefreiheit wirkt sie sich besonders negativ auf den öffentlichen Aushandelsprozess aus. Denn: In der Demokratie kommt dem offenen Diskurs eine zentrale Rolle zu. Er ist der Schlüssel zur gesellschaftlichen Entscheidungsfindung. Darum haben Verzerrungen des Kommunikationsprozesses auch negative Folgen für den demokratischen Rechtsstaat. Es gilt, dass je besser das qualitative Niveau der Debatte ist, desto höher die Richtigkeitsgewähr für das Resultat. Überzogene Diskursvulnerabilität ist so einer idealen Sprechsituation, in der jeder, der sprechen kann, an der Diskussion teilnehmen darf, jeder seine Behauptung problematisieren und in den Diskurs einbringen darf und jeder seine Wünsche und Bedürfnisse äußern darf und niemand am Diskurs durch Zwang gehindert werden darf, widerständig. Daran offenbart sich das freiheitsgefährdende Potential der Diskursvulnerabilität.

Jürgen Czogalla

14.07.2024