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Philosophisch-ethische Rezensionen
(Erscheinungsdatum der rezensierten Bücher: 20. und 21. Jahrhundert)

Michael J. Sandel, Vom Ende des Gemeinwohls. Wie die Leistungsgesellschaft unsere Demokratien zerreißt, Frankfurt am Main 2020

Für Sandel ist klar, dass Trump gewählt wurde, weil es ihm gelang eine Quelle von Ängsten, Frustrationen und legitimen Klagen anzuzapfen für die die anderen Parteien keine Antwort hatten. Ähnliche Probleme, so analysiert er, gibt es in den europäischen Ländern ebenso. Es gilt aus den populistischen Protesten zu lernen und die eigene Mission neu zu überdenken. Beginnen sollte man laut Sandel damit, dass man einsieht, dass die Klagen nicht allein wirtschaftlicher, sondern vor allem auch moralisch-kultureller Natur sind. Es geht nicht bloß um Löhne und Arbeitsplätze, sondern um gesellschaftliche Wertschätzung. Sandel sieht in den Unruhen eine Antwort auf ein politisches Versagen historischen Ausmaßes. Zwei verfehlte Ansätze schaffen nach Sandel die Bedingungen, die den Populismus in Gang halten, nämlich einmal das technokratische Konzept, das meint, dass man zentrale moralische Erörterungen aus der öffentlichen Debatte heraushalten kann und ideologisch strittige Fragen so behandelt, als seien sie Fragen der wirtschaftlichen Effizienz und damit Aufgabe von Experten mit der Folge einer Einengung der demokratischen Auseinandersetzung und einer Aushöhlung der öffentlichen Debatte, was ein zunehmendes Gefühl der Machtlosigkeit erzeugt. Wobei das technokratische, marktfreundliche Konzept der Globalisierung sowohl von den linken als auch den rechten etablierten Parteien übernommen und akzeptiert wurde und die Profite dieser Politik überwiegend zu den Spitzen flossen und zu einer vertieften Ungleichheit und wachsenden Macht des Geldes führte. Das zweite Konzept, dass es zu überdenken gilt ist die vorherrschende Einstellung gegenüber Erfolg und Scheitern, die nach Sandel dazu führt, dass die Gewinner auf Nicht-(sonderlich)Erfolgreiche „Loser“ mit Verachtung herabschauen. Diese Phrasen von Aufstieg und Erfolg finden sich in der Parole, dass diejenigen, die hart arbeiten und sich an die Regeln halten soweit aufsteigen können, wir ihre Fähigkeiten und Talente sie tragen. Diese einstmals erfolgreichen Phrasen klingen inzwischen aber hohl, waren aber zum Beispiel noch Regierungsprinzipien der Ära Obama mit der Sandel hart ins Gericht geht und die letztlich seiner Meinung nach dem Sieg von Trump den Weg bereitete, vor allem, da die demokratische Kandidatin Hillary Clinton im Wahlkampf immer noch auf diese Phrasen setzte. Die Statistiken sprechen nach Sandel aber eine klare Sprache: Aus Armut aufzusteigen ist in Kanada, Deutschland, Dänemark und anderen europäischen Ländern heute einfacher als in den USA. Die Fähigkeit, aus Armut aufzusteigen hängt nämlich weniger vom Ansporn der Armut ab als vom Zugang zu Bildung, Gesundheitsfürsorge und anderen Ressourcen, die den Menschen helfen am Arbeitsmarkt zu bestehen. Die Meritokratie der Leistungsgesellschaft hat sich nach Sandel inzwischen in den USA zu einer Erbaristokratie verhärtet. Der amerikanische Glaube mit harter Arbeit und Talent könne jeder aufsteigen, stimmt mit den Tatsachen nicht mehr überein. Das Problem wird aber nicht einfach dadurch etwa gelöst die Chancengleichheit zu perfektionieren. Denn moralisch gesehen ist es zuhöchst fragwürdig, warum die Talentierten die überdimensionierten Belohnungen einer marktgetriebenen Gesellschaft überhaupt verdienen. Und ist es tatsächlich unser Werk, wenn wir bestimmte Talente besitzen? Der Glaube, jeder erhält in einer Leistungsgesellschaft genau das, was er auch verdient, sich erarbeitet hat, sorgt bei den Gewinnern für Überheblichkeit und bei den Verlierern für Demütigung und Unmut, und gerade diese moralische Empfindung macht für Sandel den Kern des populistischen Aufstandes gegen die Eliten aus. Selbst eine vollkommen faire Meritokratie würde sich immer noch zersetzend auf die Art und Weise auswirken, in der wir unseren Erfolg deuten. Zugleich ist die selbstgefällige Ansicht der Spitzen, dass sie ihr Schicksal verdient haben und dass diejenigen die unten sind dies ebenso verdient haben der moralische Begleiter technokratischer Politik. So wird jeder Sinn für Gabe oder Gnade verbannt und die Fähigkeit sich selbst als Teil einer Schicksalsgemeinschaft zu sehen unterminiert. Solidarität schwindet und es entsteht eine Tyrannei von Leistung und Verdienst. Nach Sandel stärken wir unsere Demokratie, wenn wir zu einem moralisch stabileren öffentlichen Diskurs finden der sich gegen die zersetzenden Auswirkungen des meritokratischen Wetteiferns auf die sozialen Bindungen stemmt, die unser gemeinschaftliches Leben ausmachen. Eine Alternative dazu ist für Sandel eine breite Gleichheit, die es auch all jenen, die es nicht zu großem Reichtum oder einer besonders angesehenen Stellung bringen ermöglicht ein anständiges, würdiges Leben zu führen, in dem sie ihre Fähigkeiten entfalten und ausüben können und in der sie soziale Wertschätzung erfahren. So wendet er sich gegen eine konsumorientierte Konzeption des Gemeinwohls, der es nur darum geht, das Wohlergehen der Verbraucher zu maximieren und in der Demokratie zu nichts weiter als einer Wirtschaft mit anderen Mitteln verkommt und das Schicksal der Bürger nicht mehr von moralischen Bindungen abhängt, sondern von Einzelinteressen und Vorlieben. Sandel hält für sein Konzept vollkommene Gleichheit nicht für notwendig, wohl aber, dass sich Bürger unterschiedlicher Lebensbereiche in gemeinsamen Räumen an öffentlichen Orten treffen können und sich nicht gegenseitig abschotten. Und ein wiedererwecktes Gefühl für die Zufälligkeiten des Lebens kann zu einer gesunden Demut des „Das hätte auch mir passieren können“ führen als Anfang eines Weges der aus der brutalen Ethik des Erfolges herausführt, der Gemeinschaft zersetzt.

Auch wenn der Hauptfokus der Ausführungen von Sandel auf den USA liegt – besonders hierzu führt er immer wieder anschauliches empirisches Material für den Leser bereit, was seine Ansichten stützt – wir Europäer sollten nicht so tun, als würden diese Tendenzen bei uns in eine völlig andere Richtung gehen, wenn bei uns die Zustände vielleicht auch noch nicht ganz so extrem sind wie in den USA. Und auch bei uns gibt es ja in den letzten Jahren eine Erstarkung des Populismus. Sandel gibt wichtige Hinweise für die Entstehung und spricht offen von einem Totalversagen etablierter Parteien. Was er vorschlägt ist eine anspruchsvolle moralische Wende, aber auch eine Wiedererweckung der Demokratie und Gemeinschaft. Ein wichtiges Buch von hoher Aktualität mit großem Potential. Nicht gefallen hat mir allerdings, dass in meiner Kindle E-Book Version schon nach 70% des Gesamtumfanges die Anhänge beginnen. Das halte ich nicht mehr für verhältnismäßig.

Jürgen Czogalla, 12.12.2020

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