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Philosophisch-ethische Rezensionen
(Erscheinungsdatum der rezensierten Bücher: 20. und 21. Jahrhundert)

Philipp Felsch, Habermas auf der Tagung „Kollektive Erinnerungsprozesse in Beziehung zur NS-Zeit“ Grunewald 1986

Veranstaltet wurde die Tagung von Saul Friedländer, Fellow am neugegründeten Westberliner Wissenschaftskolleg. Die Tagung war hochkarätig besetzt z.B. mit führenden deutschen Zeithistorikern (wie Hans Mommsen, Heinrich August Winkler, Lutz Niethammer), deutsch-jüdischen Intellektuellen (wie Dan Diner, Micha Brumlik, Marianne Awerbuch), sowie anderer Experten (wie der Göttinger Psychiater Joachim-Ernst Meyer, der israelische Ideenhistoriker Amos Funkenstein und der amerikanische Soziologe Norman Birnbaum) und natürlich mit Habermas selbst. Eine Veranstaltung wie diese, so weiß Philipp Felsch, hatte es in Deutschland zuvor noch nie gegeben. Der Fokus lag hier nicht mehr auf der Tat des Holocaust, sondern auf ihrer gesellschaftlichen Nachwirkung – in den USA, Israel und besonders in der Bundesrepublik. Das Transkript des Tonbandmitschnittes der Tagung, so Felsch, lässt den Tonfall sachlicher Diskussionen vermissen, der für solche Zusammenkünfte sonst charakteristisch ist. Weder die deutschen noch die jüdischen Wissenschaftler waren in der Lage, dass Thema wissenschaftlich zu behandeln, sondern sie fielen immer wieder in ihre Rolle als Zeitzeugen zurück. Friedländer fasste das aber zum Abschluss der Tagung positiv auf, denn er meinte, dass ohne die emotionell-individuellen Ausschweifungen die Tagung ihren Zweck verfehlt hätte. Dem Ausmaß der Betroffenheit entsprach dann auch der kontroverse Charakter der Debatte, so Felsch. Einig waren sich die Teilnehmer lediglich in Bezug auf das gemeinsame Feindbild der neokonservativen Geschichtsrevisionisten. Alle anderen Fragen bezüglich des Holocaust und seiner Nachgeschichte blieben an den beiden Tagungstagen ungeklärt (in welchem Verhältnis standen Geschichte und Erinnerung? Waren neben den jüdischen Überlebenden auch die deutschen Täter traumatisiert? Ist Auschwitz ein singuläres Ereignis? Besaß das Ereignis überhistorische Bedeutung? Ist Erinnerung auf Symbole und Denkmäler angewiesen, oder schlägt dies notwendig in Nationalismus um? Waren die bisherigen Schritte zur Aufarbeitung erfolgreich? Was hatten die Deutschen vor 1945 von der Vernichtung der Juden gewusst? u.a.) Habermas, so Felsch, scheint die Debatte mit wachsender Erregung verfolgt zu haben. Mit seinen Einwürfen steuerte er die entscheidende Stichworte bei. Als Spätgeborener hörte er die Debatte, wer was gewusst hatte, schweigend zu. Dafür setzte er sich vehement für ein Vakuum nationaler Symbole in der Bundesrepublik ein. Die Deutschen hätten jetzt, so meinte er, die einmalige Chance ohne Leitbild, ohne Denkmäler, Rituale und Fahnen auszukommen, mittels dessen noch seit dem 19. Jahrhundert nationale Identität gestiftet wurde. Vielmehr haben die Deutschen jetzt die Gelegenheit mit dem Nationalismus des 19. Jahrhunderts ein für allemal zu brechen und eine experimentelle Vorreiterrolle zu übernehmen, nämlich eine vernünftige Identität auszubilden. Ihm schwebte dabei keine erinnerungslose Gesellschaft, sondern eine symbolfreie Erinnerung, die der Diskreditierung des nationalen Traditionszusammenhangs Rechnung trägt, vor. Dafür erntete er dann auch auf der Tagung viele kritische Einwände: Winkler wollte zumindest ein Minimum republikanischer Symbole von Habermas Bilderverbot ausgenommen wissen (wie z.B. unsere Nationalfahne), Funkenstein meinte, dass Symbole unumgänglich und vielleicht nur in einer Idealgesellschaft verzichtbar sind. Am Ende der Tagung ließ Habermas seinem Unbehagen freien Lauf, so Felsch. Obwohl bei keinem einzigen diskutierten Problem Einigkeit zu verzeichnen sei, beobachte er bei sämtlichen deutschen Historikern einen Hang zur Entdramatisierung und fachspezifischer Konsensbildung nebst Genugtuung über das bereits Geleistete, die ihn wahnsinnig aufregen würde.

Jürgen Czogalla

03.10.2024