Philosophisch-ethische Rezensionen
(Erscheinungsdatum der rezensierten Bücher: 20. und 21. Jahrhundert)

Johannes Fischer: Warum im Mittelpunkt der Moral nicht das moralische Urteil steht

Zu den unhinterfragten Überzeugungen der aktuellen professionellen Standardethik gehört es nach Meinung von Fischer, dass die Ethik die Aufgabe der rationalen, argumentativen Begründung moralischer Urteile hat. Moralische Urteile können also gängiger Meinung nach argumentativ begründet werden. Dagegen wendet sich Fischer in 3 Punkten.

1. Die Verpflichtung zur rationalen Rechtfertigung moralischer Urteile ist im Wesen der Moral nicht angelegt

Im moralischen Urteil erheben wir eine allgemeine, intersubjektive Wertung, mit dem Ziel andere von unserer Wertung zu überzeugen. Nun stimmt es aber nach Fischer nicht, dass all unserem moralischen Verhalten moralische Wertungen zugrunde liegen. Wenn wir z. B. etwa einem Verletzten helfen, dann zunächst einmal eben nicht, weil es geboten oder verboten ist, sondern einfach, weil der Verletzte unsere Hilfe braucht. Die Situation verlangt also unser Handeln. Unsere Rechtfertigung geschieht dann nach Fischer (z. B. wenn wir durch unsere Hilfe einen wichtigen Termin verpassen) narrativ, d.i. wir nennen diese Situation als Grund und schildern sie anderen, die sich dann einfühlen können. Die Überzeugungskraft und Nötigung geht also nicht vom Argument, sondern der Situation selbst aus. In unserem lebensweltlichen Umfeld gibt es daher auch keinen Hiatus zwischen Tatsachen und Wertungen.

2. Allein die rationale Rechtfertigung moralischer Urteile verbürgt kein moralisches Wissen

Nach Standardmeinung ist die narrativ vergegenwärtigte Situation irrtumsanfällig und kann uns über unsere wahren Pflichten täuschen. Darum müssen wir einen desengagierten Standpunkt einnehmen und argumentieren. Nach Meinung Fischer's ist aber die Logik des Arguments als Maßstab für das, was moralisch gelten sollte, fragwürdig. Durch die moderne empirische Moralforschung wüssten wir nämlich von der überragenden Bedeutung der Emotionen für unsere Moral und Fischer stellt daher die Frage, wie moralische Erkenntnis dann von einem Denken herbeigeführt werden soll, dass sich aller emotionaler Bewertung und Intuition ja gerade entsagen möchte. Zwar gibt Fischer zu, dass auch narrativ vergegenwärtigte Situationen uns zu Irrtümern verleiten können, zu dieser Erkenntnis kämen wir aber regelmäßig nicht durch rationale Erwägungen, sonder wiederum durch unsere lebensweltliche Erfahrungen und dies führt nicht dazu, dass wir etwa unseren Perzeptionen von Situationen grundsätzlich misstrauten.

3. Moralische Konflikte erfordern keine rationale Klärung

Nach Fischer braucht man rationale Klärung nur, wenn es nicht direkt um moralische Erwägungen, sondern um Erwägungen zweckrationaler Art geht. Da die Grundlage der Moral die Emotion sei, mache gerade bei Dilemmata-Entscheidungen die emotionale Dimension die eigentlich moralische Dimension aus. Für die Entscheidung muss ausschlagebend sein, welcher Situation letztlich das größere emotionale Gewicht beigelegt wird. Man urteilt also gerade nicht moralisch, wenn man sich an allgemeinen Prinzipien und Regeln orientiert, so meint Fischer, und dieses Denken trage auch nichts zu unserer moralischen Orientierung bei. Weil sie zu keinen moralischen, d. h. emotional fundierten Einsichten führt, haben sie desweiteren auch keine motivierende und verändernde Kraft auf vorhandene moralische Einstellungen.

Jürgen Czogalla

01.11.12