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Philosophisch-ethische Rezensionen
(Erscheinungsdatum der rezensierten Bücher: 20. und 21. Jahrhundert)

Latour‘s Interpretation von Lovelock‘s Gaia-Konzeption

Für Latour sind wir nicht mehr darüber entsetzt, dass die Erde nicht mehr Mittelpunkt des Universums ist, sondern darüber, dass wir uns im Mittelpunkt ihres kleinen Universums befinden, geschützt nur durch eine dünne Atmosphäre.

Lovelock‘s Fragestellung ist nach Latour ganz neu: Wie kann man von der Erde sprechen ohne sie als integrales Ganzes anzusehen, ihr eine Kohärenz anzudichten und ohne ihr dabei zugleich das Leben abzusprechen? Gaia ist für Lovelock tätig, hat aber keine Seele, und doch haben ihre Handlungen Rückwirkungen auf die Menschen. Lovelock hat bereits nach Latour gesehen, dass das Problem darin besteht, dass es hier ebensowenig um Teile noch um eine Totalität geht. Gaia ist nicht einer Maschine vergleichbar und kann deswegen auch keinem Re-engeneering unterzogen werden. Es gibt zwar Verbindungseffekte zwischen Wirkmächten, die Konzeption einer Totaliät führt aber in die Irre. Es geht darum Verbindungen zu verfolgen ohne einem Holismus zu verfallen. Jeder Organismus manipuliert dabei zum Behuf der eigenen Entwicklung seine Umgebung. Jede Wirkmacht modifiziert die benachbarte, um seine Überlebenschancen zu steigern. Das gilt für alle Akteure: Säugetiere, Insekten, Pflanzen, Bakterien und Viren. Es gibt hier keinen Gesamtplan, sondern Handlungswellen. Kein Akteur schert sich um Grenzen oder beachtet feste Maßstäbe. Es gibt kein egoistisches Gen der Neo-Darwinisten, weil das Ego buchstäblich grenzenlos ist. Es gibt nur noch Gelegenheiten, Zufälle, Rückkopplungsschleifen, Lärm. Gaia hebt alle Ebenen auf, nichts ist untätig, wohlgesinnt oder ihr äußerlich, der Raum ist nicht der Rahmen, sondern Kind er Zeit. Gaia ist also kein Organismus, sie hat eine gewisse Ordnung, aber keine Hierarchie. Gaia ist völlig profan. Da es keinen Rahmen, kein Ziel, keine Leitung gibt, ist Gaia der Name eines Prozesses. Gaia ist durch und durch geschichtlich.

Jürgen Czogalla, 03.12.2017