philosophisch-ethische-rezensionen auf Facebook

Philosophisch-ethische Rezensionen
(Erscheinungsdatum der rezensierten Bücher: 20. und 21. Jahrhundert)

Susan Wolf: Die Moral des moralischen Zufalls

Die rationalistische Position geht so: Der Zufall ist in Bezug auf Resultate für die Schuldhaftigkeit irrelevant. Die Schwere der moralischen Verfehlung ergibt sich hier daraus, wie falsch die Handlung ist, die vollzogen oder unterlassen wurde. Es kommt darauf an zu bewerten, wie falsch oder moralisch fehlerhaft eine Handlung ist. Die Resultate der Handlung fließen hier nicht in die Bewertung ein. Also ist hier z.B. der Räuber, der nur versucht dem Ladeninhaber ins Herz zu schießen (gescheitert z.B. weil Waffe Ladehemmung hat), genauso schuldig wie der Räuber, der dies erfolgreich ausführt. Das Problem mit dieser Position wird deutlich, wenn wir das Beispiel etwas verändern. Denkt euch zwei Lastwagenfahrer, die versäumt haben ihre Bremsen zu überprüfen. Dem einen läuft ein Kind vor die Nase und er überfährt es deswegen tödlich, der andere hat Glück und kein Kind läuft ihm in den Weg und er kommt gut durch. Es scheint klar, dass der erste Fahrer sich mehr Vorwürfe machen wird als der zweite. Wir wären geschockt, würde sich der erste Fahrer keine großen Vorwürfe machen. Wenn der zweite Fahrer, nachdem er zum Beispiel in der Zeitung von dem Unfall des ersten Fahrers liest, sich dann aber genauso große Vorwürfe wie dieser machen würde, dann würden wir wohl eher von einer psychischen Störung ausgehen.

Dies ist nun die irrationalistische Position: Hiernach hätte der zweite Räuber, der den Ladenbesitzer erschießt etwas Schlimmeres getan als der erste Räuber, der durch Zufall daran scheitert. Gegen den zweiten Räuber muss man daher schwerwiegendere Vorwürfe erheben als gegen den ersten, dem man keine Vorwürfe machen sollte, weil er die Tat nicht ausgeführt hat. Das Problem besteht hier darin, dass bei beiden Räubern sozusagen unterschiedliche Resultate herauskamen durch Begebenheiten, die nicht gänzlich unter ihrer Kontrolle waren. Der erste Räuber wäre also nur aus purem Glück schuldfrei.

Nach Meinung von Wolf steckt sowohl in der rationalistischen als auch in der irrationalistischen Position viel Wahrheit. Sie meint, dass eine moralisch gewissenhafte Einstellung zum Leben sowie eine Einstellung zur Moral, die in ihrer Gewissenhaftigkeit einem Menschen angemessen ist ein Gleichgewicht zwischen zwei Polen finden muss: Eine Art von Gerechtigkeit zu finden, die die Bedeutung einschränkt, was von der Macht und Qualität unseres Willens unabhängig ist und andererseits das Interesse anzuerkennen, dass wir mit der Welt verbunden sind und unsere sozialen und physischen Verbindungen zu unserer Welt aufrecht erhalten müssen. Sie spricht in diesem Zusammenhang von einer namenlosen Tugend. Eine Tugend, Verantwortung für die eigenen Handlungen und deren Folgen zu übernehmen. Die Tugend besteht darin in Erwartung und Bereitschaft zu leben, für das was man tut zur Verantwortung gezogen zu werden, was auch z.B. bedeutet, dass man sich entschuldigt, wenn man auch nur versehentlich jemand anderen geschubst hat. Sie meint, um im Beispiel der Lastwagenfahrer zu bleiben, dass beide das gleiche Maß an Schuldzuweisung verdienen, wir aber erwarten können, dass der Fahrer, der das Kind überfahren hat, sich in der namenlosen Tugend übt, während für den anderen dazu kein Anlass besteht.

Jürgen Czogalla, 24.12.2021