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Philosophisch-ethische Rezensionen
(Erscheinungsdatum der rezensierten Bücher: 20. und 21. Jahrhundert)

Maria-Sybilla Lotter, Scham, Schuld, Verantwortung: Über die kulturellen Grundlagen der Moral, Berlin 2012

Frau Lotter ist der Meinung, dass zwischen unseren theoretischen Beschreibungen und unserer moralischen Praxis eine Lücke klafft. Sie nimmt in ihrem Buch daher eine, wie sie es empfindet‚ ‚unzeitgemäße‘ Perspektive ein, die gegen die in unserem Kulturkreis vorherrschende Betrachtungsweise quer steht. Denn wo nach ihrer Meinung wir dazu neigen moralische Verantwortung mit Autorschaft zu identifizieren, zeige ein Blick in die moralische Praxis, dass hier auch wichtige schuldfreie Aspekte vorliegen, wie z.B. moralische Haftung und Täterbedauern. Indem die Autorin Fallbeispiele von vorgeblich moderner und vorgeblich traditionell-primitiver Moral- und Verantwortungsauffassung versucht miteinander ins Gespräch zu bringen, arbeitet sie an einer Beseitigung von Vorurteilen bezüglich deren angeblicher Differenz (so als führten Mitglieder einer traditionellen Gesellschaft notwendig ein weniger selbständiges, autonomes Leben). Dabei geht die Autorin davon aus, dass alle Personenbegriffe eine sozial konstituierte Moral voraussetzen (der Versuch Moral rein autonom begründen zu wollen führt für sie in die Irre): Rein intellektuelle und universalistische Modellen (z.B. bei Kant und im Utilitarismus) blenden dagegen, so meint die Autorin, Bereiche aus die in unserem Alltagsleben zentral sind, nämlich die moralische Dimension der Wahrnehmung, der Lebenserfahrung, der Verpflichtung zu Idealen, der sozialen Rollen, der sozialen Beziehungen und persönlichen Gefühle. So werden die Tugenden einer Person, ihr sozial angemessenes Verhalten (liebevoller, respektvoller Umgang mit den Mitmenschen), die Fähigkeit auf andere Individuen einzugehen und sie auf rechte Weise wahrzunehmen oft als Moral niedriger Stufe bewertet. Die Fixierung auf universalistische Begründungen berge aber die Gefahr in sich, dass moderne westliche Gesellschaften ihr moralisches Wahrnehmungsvermögen und ihre intersubjektiven Beziehungen unterkultivieren. Ohne diese Fähigkeiten kann man aber nach Meinung der Autorin nicht moralisch urteils- und handlungsfähig sein, selbst wenn man über die vorgeblich höherwertigen moralischen Abstraktionsfähigkeiten verfügt.

Frau Lotter schreibt gut lesbar und dabei mit wissenschaftlichem Anspruch (sehr viele Fußnoten, umfangreiches Literaturverzeichnis), ganz toll! Mit großer Sympathie habe ich ihre Gedankengänge verfolgt, besonders etwa auch ihre Analyse der Scham als grundlegend für die Bildung eines moralischen Selbstbewusstseins (also im Gegensatz zu Theorien, die das moralische Bewusstsein allein auf autonomes Kopfdenken festlegen wollen). Manchmal hatte ich aber den Eindruck, als ob sie nun ein Bisschen ins andere Extrem verfällt und die Bedeutung universalistischer Prinzipien unterbewertet. Sie kritisiert hier viel und wenn sie auch desöfteren einräumt, dass sie durchaus notwendig sind, fehlt hier eine genauere Analyse, die sie bei der Untersuchung der überwiegend sozial erzeugten moralischen Dimension leistet. So gelingt es ihr nicht, die beiden Bereiche miteinander so zu verbinden, dass es mich intellektuell wirklich befriedigt. Wie die Überschreitung zwischen dem eigenen, sozusagen selbstverständlichen moralischen Horizont hin zu einer anderen, geweiteten und vertieften Perspektive von statten geht und gehen kann (z.B. zu der Idee von allgemeinen Menschenrechten etc.) wird nur kurz, zu kurz, wie ich meine, angerissen. Eine Perspektive jenseits unserer je eigenen sozialen Wirklichkeit können wir nach Meinung der Autorin jedenfalls nicht einnehmen. Sie sieht dann auch selbst, dass ihr Moralbegriff auch ‚schlechte‘ Moral (wie etwa den Rassismus) mit einschließt. Ein Überschreiten des Eigenen zum Anderen und möglicherweise Besseren denkt sich Frau Lotter dadurch möglich, dass wir durch die Komplexität und Divergenz im kulturell-sozialen Umfeld genötigt werden, Bedeutung und Wichtigkeiten für uns selbst immer wieder klären müssen. Dadurch werde der lebensweltliche Hintergrund aber nicht gesprengt oder zerstört, sondern erweitert, sonst wäre anstelle von Autonomie nur ein Zustand von Orientierungslosigkeit erreicht. In diesem Rahmen, so verstehe ich Frau Lotter, kann sie auch Universalisierungen akzeptieren.

Das Buch hat mir viele interessante, abseits des Konventionellen liegende Aspekte des Moralischen näher ins Bewusstsein gerückt – und das Buch hat mich obendrein noch gut unterhalten.

Jürgen Czogalla, 14.04.2012

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